Hauser / VersanG / Thema 10 / v2

 Einleitung

Man könnte versuchsweise sagen, Compliance ist das goldene Kalb der vergangenen Jahrzehnte. Die Entwicklung uA im anglo-amerikanischen Raum nachvollziehend, wurde in der unternehmerischen Praxis der Bundesrepublik die Einrichtung einer systematischen Prävention und Dokumentation potentiell rechtsbrüchigen Verhaltens mehr und mehr vorangetrieben. 

Angesichts dieser tatsächlichen Entwicklungen, und der angeblichen Defizienz des bisher geltenden Rechts, wurde der Ruf nach einer gesetzlichen Verankerung von Compliance immer deutlicher, bis schließlich der Koalitionsvertrag von 2018 die “Wirtschaftskriminalität wirksam” zu verfolgen verspricht und das BMJV im Juni 2020 einen Entwurf (RegE) vorlegt für ein neues Verbandssanktionengesetz (VerSanG).

Die zahlreichen Stellungnahmen von Verbänden, welche, reagierend auf den zuvor erschienenen Referentenentwurf mitunter massive Kritik an dem Vorhaben äußerten, wurden offenbar nur geringfügig bis überhaupt nicht berücksichtigt. Was anhand der kurzen Zeitspanne zwischen RefE und RegE nicht zu verwundern vermag. Das nun vorliegende, noch nicht verabschiedete Gesetz wurde, so wird das von der Praxis quasi einhellig bewertet, gleichsam mit heißer Nadel gestrickt.

Dennoch oder gerade deshalb gibt es zahlreiche Bedenken zu seiner Verfassungsmäßigkeit, Praktikabilität, Effektivität, Angemessenheit und Adäquanz der dogmatischen Anlage, welche allerdings nur am Rande Gegenstand dieser Abhandlung sein können.

In jedem Fall, hier sind sich die KommentatorInnen des Gesetzgebungsverfahrens einig, wird das VerSanG massiven Einfluss auf die unternehmerische Landschaft in der Bundesrepublik hinsichtlich der Verankerung, Ausgestaltung und Relevanz von Compliance-Strategien entfalten. 

Diesen Einfluss will der vorliegende Beitrag anhand von theoretischen und praktischen Überlegungen in seinen Grundzügen aufzeigen, sowie abschließend Perspektiven für die Rechtsprechung und die Praxis skizzieren.






Status Quo  


Derzeit kennt das deutsche Recht – abgesehen von Spezialregelungen für bestimmte Branchen und Teilrisiken – keine generelle Pflicht für Unternehmen zur Durchführung einer systematischen Compliance. Auch gibt es keine gefestigte Rechtsprechung zu dem Thema. Rahmenbedingungen ergeben sich höchstens aus dem Gesellschaftsrecht und dem Ordnungswidrigkeitenrecht (insb. § 130 OWiG), aus anerkannten Standards sowie anderen Rechtsordnungen, die aufgrund internationaler Konzernverflechtung auch für viele deutsche Unternehmen relevant sind. Zwar ist es schon jetzt möglich eine bis zur Delinquenz effektiv arbeitende Compliance bußgeldmindernd zu berücksichtigen, die Unternehmen haben allerdings keine dahingehende Garantie. Insofern man es für überzogen hält, wenn in diesem Zusammenhang von Rechtsunsicherheit gesprochen wird, kann in jedem Fall jedoch nicht von einer gesetzlichen Anreizstruktur ausgegangen werden, die dazu ermuntert eine einmal gewachsene “kriminelle Unternehmenskultur” zu demontieren. 

Bei dem Durchgang durch die Judikatur hat insb. das BGH Urt. v. 9.5.2017 – 1 StR 265/16  von sich reden gemacht, in dem es aE recht lapidar heißt: 

Für die Bemessung der Geldbuße ist zudem von Bedeutung, inwieweit [...] ein effizientes Compliance-Management installiert [worden ist], das auf die Vermeidung von Rechtsverstößen ausgelegt sein muss. Dabei kann auch eine Rolle spielen, ob die Nebenbeteiligte in der Folge dieses Verfahrens entsprechende Regelungen optimiert und ihre betriebsinternen Abläufe so gestaltet hat, dass vergleichbare Normverletzungen zukünftig jedenfalls deutlich erschwert werden.


Schon hier ist eine pragmatische rechtsrealistische Haltung angedeutet, die mE die Regelungstechnik des VerSanG durchzieht, nebst teilweise unerwünschter “Privatisierung der Strafverfolgung” und “Ökonomisierung der Regeltreue”. Dies manifestiert sich nicht zuletzt in der Strafmilderung, die an eine Optimierung “in der Folge dieses Verfahrens” anknüpft und somit gleichsam “temptative Rechtsbrüchigkeit” belohnt. 




Grundlegendes zu Compliance, internen Ermittlungen und Fallgestaltungen

Die Anwendungsbereiche von Compliance und internen Untersuchungen sind in der Praxis äußerst vielgestaltig: Schwarze Kassen, Bestechung, Korruption, Kartellabreden, Verstöße gegen Compliance-Vorschriften, Falschbuchungen; Betriebsratsbegünstigung, Scheinselbständigkeit, Dieselmanipulationsaffäre, Cum Ex Steuerskandal oder sexuelle Belästigungen, um nur die wichtigsten Fallgruppen zu nennen. 

Das VerSanG verwendet den Begriff der Compliance an keiner Stelle, spricht jedoch gleichbedeutend von angemessenen und wirksamen organisatorischen Vorkehrungen zur Vermeidung von Verbandstaten. Mit Blick auf die ausufernde Kasuistik wird schnell ersichtlich, dass das Antlitz einer adäquaten Compliance lediglich der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) enthält eine grundlegende Begriffsbestimmung: 

Der Vorstand hat für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und wirkt auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hin (Compliance). Er soll für angemessene, an der Risikolage des Unternehmens ausgerichtete Maßnahmen (Compliance Management System) sorgen und deren Grundzüge offenlegen. Beschäftigten soll auf geeignete Weise die Möglichkeit eingeräumt werden, geschützt Hinweise auf Rechtsverstöße im Unternehmen zu geben; auch Dritten sollte diese Möglichkeit eingeräumt werden.


Es geht also um die Schaffung einer Struktur ex negativo: Die Regelübertretung antizipierend muss ein Netz geknüpft worden sein, das es vermag die Delinquenz aufzufangen und einzuhegen.  

Davon unterschieden werden müssen (zunächst) die internen Ermittlungen, die auf Bereitstellung von Informationskomplexen für die Strafverfolgungsbehörden zielen und zeitlich erst dann und modal auf die Weise einsetzen, wenn und wie es der Anfangsverdacht einer Straftat gebietet. Im Zuge des VerSanG werden diese Bereiche allerdings voraussichtlich insofern (noch zunehmend) vermengt, als dass eine andauernde Compliance sich selbst dokumentiert, um im Hinblick auf den Eintritt einer planerisch bereits vorweggenommenen Verbandstat effektiver reagieren zu können, und diese Reaktion, selbst wiederum dokumentiert, als Milderungsgrund iSd § 15 ff. VerSanG anführen zu können.

Insofern ist auch die Unterscheidung zwischen “vor- und nachträglichem Ergreifen von Maßnahmen” nicht von großer Bedeutung. Beide Formen können (zumal kombiniert) zu einer Sanktionsmilderung führen. 




Sanktionsmilderungen durch Compliance

Das entscheidende Gericht ist nach dem VerSanG nun verpflichtet, eine Abwägung von Umständen vorzunehmen, wobei die internen Bemühungen um Rechtstreue einzufließen haben. Danach “soll” es gemäß dem Wortlaut des § 17 VerSanG-RegE die Strafe mildern, insofern ein Aufklärungsbeitrag unter Einhaltung des fair-trial-Prinzips erfolgt ist. Dies soll hier aber nicht Gegenstand sein. Eine Milderung kann das Gericht zudem vornehmen, wenn seitens des Unternehmens ein effektives Compliance-Management installiert worden ist, das auf die Vermeidung von Rechtsverstößen ausgelegt sein muss. Dies gilt einerseits für Maßnahmen vor der Tat und andererseits für diejenigen Maßnahmen, die in der Reaktion auf die Tatbegehung getroffen werden, um künftiges Unrecht zu vermeiden. Der Umfang der Sanktionsminderung kann dabei bis zum vollständigen Erlass einer Strafe reichen. (§ 10 VerSanG eröffnet -- ausdrücklich compliance-sensibel -- die Möglichkeit der Verwarnung mit Verbandsgeldsanktionsvorbehalt). 

Hinsichtlich der angemessenen Maßnahmen der Organisation, Auswahl, Anleitung und Aufsicht verweist die Begründung des RegE im Wesentlichen auf die zu § 130 OWiG entwickelten Grundsätze. Wie die „erforderliche“ und „gehörige“ Aufsicht nach dieser Vorschrift müssen die Maßnahmen der Organisation, Auswahl, Anleitung und Aufsicht zur Abwendung von Straftaten rechtlich zulässig, geeignet und notwendig sein, ohne das Maß des Zumutbaren zu überschreiten. Dazu gehören Leitungs-, Koordinations-, Organisations- und Kontrollpflichten, wobei die Aufsicht auch die Pflicht umfasst, gegebenenfalls gegen strafbares Verhalten einzuschreiten und Sanktionen anzudrohen und soweit erforderlich zu verhängen. 

Dabei sind auch die Grenzen des für die aufsichtspflichtige Leitungsperson Zumutbaren und die Eigenverantwortung der handelnden Nicht-Leitungspersonen zu beachten und zu berücksichtigen, dass überzogene, von zu starkem Misstrauen geprägte Aufsichtsmaßnahmen den Betriebsfrieden stören und die Würde des Arbeitnehmers verletzen können.

Die Leitungs-, Koordinations-, Organisations- und Kontrollpflichten können laut Begründung des RegE durch Compliance-Maßnahmen erfüllt werden, ohne dass der Tatbestand unmittelbar zur Schaffung eines Compliance-Programms (als umfangreich angelegtes und protokolliertes Zielgewinnungsverfahren, ggf mit erheblichen Kosten verbunden) verpflichtet. Andererseits führt jedoch das alleinige Bestehen eines Compliance-Programms nicht unmittelbar zur Sanktionslosigkeit. Entscheidend ist vielmehr, ob die Sorgfalt angewandt wurde, die von einem ordentlichen Angehörigen des jeweiligen Tätigkeitsbereichs verlangt werden kann. Welche Maßnahmen und Vorkehrungen erforderlich sind, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab und dabei insbesondere von Art, Größe und Organisation eines Unternehmens, Gefährlichkeit des Unternehmensgegenstandes, Anzahl der Mitarbeiter, den zu beachtenden Vorschriften sowie dem Risiko ihrer Verletzung. Bei kleinen und mittleren Unternehmen mit geringem Risiko von Rechtsverletzungen können demnach auch wenige einfache Maßnahmen ausreichend sein; der „Zukauf“ eines Compliance-Programms oder von Zertifizierungen ist insoweit regelmäßig nicht erforderlich. Es ergibt sich aus der Natur der Sache, dass ein lückenloser Schutz gegen Straftaten nicht zu gewährleisten sein wird und Compliance-Maßnahmen insbesondere dort ihre Grenzen finden, wo der Täter aus verbandsfremder Motivation handelt. Die Erwähnung dessen im RegE ist mE insofern tautologisch, da eine Verbandstat nur dort entsteht, wo ein Rechtsbruch erfolgt, dessen Unvermeidbarkeit sodann allerdings evident ist. Diese als “Exzesstaten” bezeichneten Konstellationen, und ihre Erwähnung im RegE stellen jedoch mE nochmals deutlich heraus, dass das häufig angeführte Argument eines tone-from-the-top nicht dazu führen darf, dass beim Vorliegen einer Verbandstag die Defizienz des Compliance-Systems gleichsam indiziert wäre. 



Rechtsprechung und Schrifttum zu § 130 OWiG

Was die Bestimmung von Art und Umfang der erforderlichen Aufsichtspflichten anlangt, trifft die Rechtsprechung eine “ganz besondere Verantwortung”. Wesentlich sind hier neben der Betriebsgröße und den tatsächlichen Überwachungsmöglichkeiten auch Fragestellungen, wie diejenige, ob ein Fehler bereits einmal gemacht worden ist und mit zumutbaren Vorkehrungen hätte verhindert werden können. Allgemein ist diejenige Sorgfalt bestimmend, die von einem ordentlichen Angehörigen des jeweiligen Tätigkeitsbereiches verlangt werden kann. Alles in allem ist die Rechtsprechung hier also gesteigert einzelfallorientiert. 

Im Schrifttum wird präzisiert, dass zu einer gehörigen Aufsicht Leitungs-, Koordinations-, Organisations- und Kontrollpflichten gehören. Dieses Pflichtenbündel ist einer weiteren Konkretisierung durchaus fähig. Aus § 130 lässt sich nicht prinzipiell entnehmen, dass alles, was arbeitsrechtlich, organisatorisch oder technisch möglich ist, auch sanktionsrechtlich erzwungen werden darf. Überdies ist bei allen an sich möglichen Maßnahmen zu fragen, ob sie rechtlich zulässig sind, was zB bei einer lückenlosen Video- oder Telefonüberwachung zu verneinen ist. 

Ganz generell sind aus den gesetzgeberischen Festlegungen im Ordnungswidrigkeiten-Regime erste Anhaltspunkte für eine Konkretisierung der Aufsichtspflicht zu gewinnen. Die Aufsichtsmaßnahmen -- und somit auch die Compliance-Bemühungen iSd VerSanG -- sind offenbar in jedem Falle an ihrer „Erforderlichkeit“ zu orientieren und dahin zu präzisieren, dass der Aufsichtspflichtige die Maßnahmen zu ergreifen hat, die nach Lage der Dinge geeignet sind, betriebsbezogene Zuwiderhandlungen zu verhindern. Dazu gehört nach den gesetzgeberischen Vorstellungen jedenfalls auch die Bestellung geeigneter Aufsichtspersonen sowie deren Überwachung.



Exkurs : Verfahrensgestaltung bei Vornahme Interner Ermittlungen

Neben dem Nachweis gebührlicher Compliance-Anstrengungen sieht das VerSanG in dem § 17 die Möglichkeit vor, durch weitreichende und ununterbrochene Kooperation, aus der ein Aufklärungsbeitrag hervorgeht, die Verbandssanktion gemildert zu bekommen. Ich möchte diesen Aspekt hinsichtlich der sich ergebenden Fragestellung zur Rechtsstellung der Beschäftigten kurz skizzieren, da er mir für die Regelungstechnik des VerSanG besonders aufschlussreich erscheint. 

Nach der Entdeckung einer Verbandstat ist der Verband nach einhelliger Meinung (bereits nach alter Rechtslage) gut beraten, sich unverzüglich um die Aufklärung des Sachverhalts zu bemühen, nicht zuletzt um zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er eine Kooperation mit den Behörden anstreben möchte. 

Der Mitarbeiter hatte hierbei bisher keinen generellen Anspruch darauf, dass ihn ein Betriebsratsmitglied seiner Wahl bei allen Personalgesprächen begleitet. Vielmehr ist dieses Recht auf die in den §§ 81 IV, 82 II, 83 I, 84 I BetrVG genannten Gesprächsanlässe beschränkt. Wenn nun aber im Rahmen des VerSanG eine rechtliche Regelung geschaffen wird, die die Ausweitung von Compliance und Internal Investigations begünstigt (wenngleich von vielen Stellen betont wird, dass damit keineswegs ein “outsourcing” der Strafverfolgung an Private einhergehe) kann dies nicht zu Lasten der Rechtsstellung der Arbeitnehmer gehen, welche, sei es als Zeugen oder als Beschuldigte, für interne Ermittlungen bemüht werden. Um hier nicht ins Hintertreffen zu geraten, ist im § 17 V b VerbSanG zwingend vorgeschrieben, den Befragten im Rahmen eines fairen Verfahrens das Recht einzuräumen, einen anwaltlichen Beistand oder ein Mitglied des Betriebsrats zu Befragungen hinzuzuziehen, und die Befragten auf dieses Recht vor der Befragung hinzuweisen. Es ist nun davon auszugehen, dass Verbände der freien Wirtschaft mitunter nicht über dasselbe Maß an Expertise bezüglich der Sachverhaltsermittlung verfügen, wie die Staatsanwaltschaften, weshalb die Überschreitung der nach dem fair-trial-Prinzip zulässigen Vorgehensweisen zuungunsten der Arbeitnehmer auf Basis der Neuregelung wahrscheinlicher wird. 

Auf dieses Problem nimmt der § 17 V VerSanG Bezug, der die Einhaltung der arbeitnehmerschützenden Bestimmungen gerade zur Voraussetzung dafür erhebt, dass die gewonnenen Erkenntnisse auch im Rahmen eines Aufklärungbeitrags sanktionsmildernd veranschlagt werden können. 

Es bleibt jedoch das Risiko einer Konstellation, in der das vom Arbeitsrecht adressierte Kräfteungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einer Situation investigativer Anspannung zu irreparablen Schäden im Arbeitsverhältnis führt, beispielsweise weil Aussagen getätigt werden, die wenngleich nicht zur Sachverhaltsermittlung erforderlich, den Aussagenden in Misskredit bringen, und somit seine Lebensgrundlage, das Arbeitsverhältnis empfindlich gefährden. Dies ist im Hinblick auf die Kostenersparnis-Erwägungen, die der Begünstigung der Internal Investigations zugrunde liegen (komplizierte Sachverhalte, die vom Unternehmen “besser durchblickt” werden können) zwar zu rechtfertigen, illustriert jedoch eindrücklich, welche “Kollateralschäden” dabei entstehen können, wenn (Stichwort: Regulierte Selbstregulierung) eine Sphärenverschiebung bzw. -verzahnung zwischen dem Staat mit seinem Saktionsinteresse und den Verbänden mit ihrem Gewinnerzielungsinteresse vorangebracht wird. Die Rechtsprechung wird gut daran tun, die Regelung in dem § 17 V VerSanG sehr wörtlich zu nehmen und sich die Dokumentationen über die Internen Ermittlungen genau auf die Frage hin anzusehen, ob der Verband die Sanktionsmilderung versprechenden Aufklärungsbeiträge nicht “auf Kosten” seiner Belegschaft erlangt hat. 


Praktische Dimension: Gefahr der Compliance als “Fischen im Trüben”

Vonseiten der judikativen Praxis wird vertreten, dass der Befund, demzufolge bei der aktuellen Gesetzeslage „konkrete und nachvollziehbare Zumessungsregeln für Verbandsgeldbußen fehlen“ bei der Formulierung des VerSanG nicht hinreichend Rechnung getragen würde. Die angegebenen Kriterien erlaubten zwar eine Bewertung des Verstoßes, sie sind aber nicht geeignet ähnliche Sanktionen für vergleichbare Fälle zu bewirken – regionale Unterschiede werd es nach wie vor geben. Der Einfluss eines bestehenden Compliance-Management Systems (CMS) werde für die konkret zu bemessende Sanktion nicht deutlich. 

Mehrfach wurde auf den “hybriden Charakter” des VerSanG hingewiesen, einem Nomenkomplex, der zwischen Gefahrenabwehrrecht und Sanktionsrecht “oszilliere”, und zugleich präventive wie repressive Zwecke verfolgt. Diese Unstimmigkeit der dogmatischen Provenienz der Regelung könnte in der Judikatur zu Schwierigkeiten bei der Anwendung führen, aus denen die Ungleichbehandlung gleichgelagerter Fälle resultieren kann. Sollten die Unternehmen diese Entwicklung sich abzeichnen sehen, bleibt zu befürchten, dass dies dem Anreiz eine nach einheitlichen gesetzlich festgelegten Kriterien gestaltete Compliance einzurichten, abträglich wäre und somit das Regelungszziel des VerSanG mittelbar unterminiert wird.


Perspektiven

Das VerSanG wird an seiner Unbestimmtheit zu leiden haben. Und mit ihm die Rechtsunterworfenen. Wie ausgeführt, können die Begriffe um den Gedanken der effektiven Compliance (also quasi die angemessenen Vorkehrungen zu Überwachung einer "Gefahrenquelle" Unternehmen) als Instrumentarium für den Rechtsanwender, die Rechtsanwenderin nicht überzeugen. Zwar bietet sich eine Konkretisierung nach den anerkannten Standards wie bspw. IDW PS 980, ISO 19600 bzw. 37301 und DOJ Guidance an, zumal von den Unternehmen, die hier quasi die Darlegungslast tragen, nicht zuletzt aufgrund der massiven Strafen, die drohen, die ausführliche Darlegung zu erwarten ist und billigerweise erwartet werden kann (immerhin steht der Vorwurf erheblich rechtsbrüchigen Verhaltens im Raum). Allerdings wird vonseiten des Gesetzgebers nicht hinlänglich darauf hingewirkt , dass eine vergleichbare Verbandstat bspw. in Bielefeld durch vergleichbare Compliance-Maßnahmen kompensiert in einer Strafrahmenreduktion mündet, die derjenigen für einen gleichgelagerten Fall bspw. in Sigmaringen  entspricht, oder sonstwo in der Bundesrepublik. Kurz -- die Unbestimmtheit des Normtexts wird zu regionalen Unterschieden führen und ist Einfallstor für Dezisionismus (je nachdem, wie wohlgesonnen die entscheidende Instanz der freien Wirtschaft oder dem konkreten Verband im Einzelfall gegenübersteht)

Wenngleich der straftheoretische Einwand verfängt, dass Unternehmen nicht "mit Unrecht disponieren" sollen, geht es um nicht weniger als das Vertrauen in die deutsche Unternehmenslandschaft. Gleichzeitig mit diesem steht auch dasjenige in den Rechtsstaat auf dem Spiel, welches nach der VW-Abgasaffäre et. al. gemäß der Parallelwertung der Laiensphäre eine empfindliche Erschütterung hinsichtlich seiner Wirkmächtigkeit gegenüber unternehmerischer Delinquenz erlitten haben dürfte, die keinen Freund* der parlamentarischen Demokratie erfreuen kann.


Literaturverzeichnis



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Cordes/Wagner: Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der 

Wirtschaft – Fundamentale Reform oder alter Wein in neuen Schläuchen? NZWiSt 2020, 215


Franke/Henseler: Verbandssanktionengesetz: Fragen aus Theorie und Praxis ZRP 2020, 209


Baur/Holle: Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes – Eine erste Einordnung ZRP 2019, 186


Engelhart, Marc: Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, 2. Auflage 2015


Hauschka, Christoph E. (Hg):  Corporate Compliance : Handbuch der Haftungsvermeidung im Unternehmen 3. Aufl. 2016 


Hastenrath / Hastenrath / Hettich : Compliance - Kommunikation, 2. Aufl. 2017


Franke/Henseler: Verbandssanktionengesetz: Fragen aus Theorie und Praxis ZRP 2020, 209

 

Lanzinner/Petrasch: Die Milderung nach §§ 17 f. VerSanG – ein „Anreiz“ für den Verband als Arbeitgeber? : CCZ 2020, 109. 


Grunert, Eike: Verbandssanktionengesetz und Compliance-Risikoanalyse CCZ 2020, 71.


Grützner/Jakob: Compliance von A-Z, 2. Auflage 2015


Moritz, Manfred : Kants Einteilung der Imperative 1960


Naber/Ahrens: Befragung von Mitarbeitern im Rahmen von Internal Investigations – Vorgehensweise und aktuelle Herausforderungen CCZ 2020, 36


Rostalski, Frauke : Neben der Spur: Verbandssanktionengesetzgebung auf Abwegen

NJW 2020, 2087


Stück, Volker: Unternehmensinterne Untersuchungen im Fokus von Rechtsprechung und Gesetzgebung ArbRAktuell 2020, 408


Wallau, Rochus: Lebensmittelstrafrecht – einige anstehende und künftige Fragestellungen LMuR 2016, 89


Mitsch, Wolfgang (Hg):  Karlsruher Kommentar zum OWiG 5. Auflage 2018



Ehrenerklärung






(Lieber Leser* / Quellenverzeichnis gerne auf Anfrage unter janikhauser@gmx.de)



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