Wieder Jura. Langweilig. Hier: Völkerrecht

 Ausarbeitung z Th. Urteil der Grossen Kammer des EGMR vom 30. Juni 2005 im Fall Bosphorus gegen Irland -- EGMR, Rs. 45036/98, (Bosphorus Hava Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Sirketi gegen Irland) -- von Janik Hauser


Sachverhalt

Etwas verkürzt gefasst, hatte sich der EMRK in dem og. Fall mit der Rechtmäßigkeit der Festsetzung einer geleasten Passagiermaschine auf irischem Boden durch den irischen Verkehrsminister zu befassen. Gestützt wurde dieser (unstrittige) Eingriff in das Recht auf Ausübung des Eigentums auf Art. 8 der Resolution 990/93, wobei die Beklagte Republic of Ireland nach der Vorlage an den EuGH, und mehrere Berufungsdurchgänge, davon ausgegangen war, keinerlei Entscheidungsspielraum in der Umsetzung der VO gehabt zu haben. Das Resultat der Verwerfungen: Von vier Jahren Leasingzeitraum konnte die Beschwerdeführerin Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi = Bosphorus Airways somit iE die Maschine drei Jahre nicht nutzen.


Problemaufwurf

Kernproblem des Falles ist eine völkerrechtliche Doppelverpflichtung Irlands: Das EU-Mitglied musste im Zusammenhang mit dem Eigentumsschutz (als Maßnahme mit sog. „bestimmendem Element” ist der Schutzbereich des Art. 1 .1 Prot. EMRK problemlos berührt) einerseits das Gemeinschaftsrecht und andererseits seine Verpflichtungen aus dem Konventionsrecht beachten. Für derartig gelagerte Konkurrenzfälle gilt nach völkerrechtlichem Regelwerk, dass der frühere Vertrag (hier die Konvention) Anwendung findet, falls der spätere Vertrag (hier der EG-Vertrag und das von ihm abgeleitete Recht) bestimmt, dass erstere untergeordnet ist.  Der EG-Vertrag wiederum lässt Altverträge (darunter die Konvention) unberührt, unbeschadet der Pflicht der Mitgliedstaaten, Unvereinbarkeiten zu beheben (Art. 307 I und II EG). Diese Konstellation ist in dem Urteil allerdings nicht erörtert.


»Koordinationsmodell« und der Begriff des »gleichwertigen Grundrechtsschutzes«


Die Lösung, der der EGMR das Problem schließlich zuführt, wird in der Literatur häufig mit dem Solange-II-Urteil des BVerfG verglichen. Denn wenngleich jede EMKR-Vertragspartei grundsätzlich für alle Handlungen und Unterlassungen seiner eigenen Organe verantwortlich ist (dies unabhängig davon, ob ein solches Handeln oder Unterlassen der Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen dient oder nicht), gilt seit Bosphorus

Ein Rechtseingriff, der in Erfüllung einer aus der Mitgliedschaft in einer internationalen oder supranationalen Organisation folgenden Verpflichtung vorgenommen wird, ist eben solange gerechtfertigt, wie die Organisation die Grundrechte – sowohl hinsichtlich der getroffenen materiellen Regelungen als auch der Mechanismen zur Kontrolle ihrer Beachtung – in einer Weise schützt, die mindestens als gleichwertig (iSv “vergleichbar, nicht: “identisch”) mit dem von der Konvention gewährten Schutz anzusehen ist. 

Das Schutzniveau muss hierbei nicht für jeden vorgelegten Fall eigens ermittelt werden, sondern folgt dem Mechanismus einer Vermutung: Bietet die Organisation (hier die EU) einen gleichwertigen Schutz (lies: wie die EMRK), gilt die Vermutung, dass sich die Vertragspartei den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, wenn sie lediglich den rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich für ihn aus seiner Mitgliedschaft in der Organisation ergeben. Widerlegt werden kann die Vermutung durch den Einzelfall: Stellt sich nämlich anhand diesem heraus, dass der Schutz von Konventionsrechten im Bereich der Organisation offenkundig unzureichend (“Manifestly Deficient”) ist, wird der Mechanismus umgekehrt. Das heißt, dass eine Rechtfertigung des Eingriffs mit dem Verweis auf völkerrechtliche Verpflichtungen dann nicht in Betracht kommt und die Vertragspartei grundsätzlich vollumfänglich verantwortlich zeichnen muss. Genauere Kriterien, wann ein derartiges manifestes Defizit festgestellt werden kann, benennt der EGMR freilich zunächst nicht. 



Entwicklungslinien des Solange-Gedankens 


Die Entwicklung hin zur Kontrolldichtenrücknahme, verkörpert durch das Bosphorus-Urteil, verlief indes keineswegs linear. Sachlich unmittelbarer Vorläufer des Bosphorus-Urteils ist das Cantoni-Urteil des EGMR aus dem Jahr 1996. Zur Überprüfung stand damals ein französisches Strafgesetz, welches in Umsetzung einer Gemeinschaftsrichtlinie den Verkauf von Arzneimitteln in einem Supermarkt unter Strafe stellte. Dass die staatliche Maßnahme auf einer gemeinschaftsrechtlichen Grundlage erfolgt war, hielt den EGMR damals nicht von einer vollumfänglichen Überprüfung des französischen Gesetzes ab. Vielmehr hob der Menschenrechtsgerichtshof im Cantoni-Urteil hervor, der Umstand, dass die fragliche nationale Bestimmung nahezu wortgleich der umgesetzten Gemeinschaftsrichtlinie entspreche, enthebe sie nicht dem Anwendungsbereich der EMRK.

Auch in der Sache Matthews aus dem Jahr 1999 hat der Gerichtshof deutlich gemacht, dass er gewillt ist, die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für Grundrechtsverletzungen nach Maßgabe der EMRK zur Verantwortung zu ziehen. Und dies ungeachtet dessen, ob jene aus primärem oder primärrechtsgleichem Recht, also jedenfalls von den Mitgliedstaaten selbst geschaffenem Gemeinschaftsrecht resultieren.

J. Bröhmer, der diesbezüglich zusätzlich noch European Space Agency und EMESA SUGAR in den Blick nimmt, kommt gar zu dem Fazit, dass man mit Bosphorus wieder an dem Ausgangspunkt (“der Melchers Entscheidung”) gelangt sei, der eine sich hin zur Überprüfbarkeit entwickelnde Zeitachse gleichsam umbiege. Mit der Bosphorus-Entscheidung schränke der EGMR nunmehr sogar seine Kontrolle von gebundenen mitgliedstaatlichen Maßnahmen, die der Durchführung von Gemeinschaftsrecht dienen, mittels eines Solange-Vorbehalts ein.


Nachwirkungen des Bosphorus-Urteils, Kritik und der Versuch einer Wertung 

Diese Konstellation provozierte in der Lit. mitunter die Befürchtung, mit dem Urteil Bosphorus begebe sich der EGMR seiner Kernaufgabe, einen ausreichenden Menschenrechtsschutz auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Diese Thesenbildung erweist sich in der Retrospektive, wie im folgenden dargestellt werden soll, allerdings als überspannt. Im Einzelnen: 


könne “die vermutete Rechtfertigung staatlicher Akte nicht allein auf der Tatsache beruhen, dass ein Staat Mitglied einer internationalen Organisation ist, sondern – wie der vom EGMR formulierte Vorbehalt ja auch erkennen lässt dass dieser Staat Mitglied einer internationalen Organisation ist, die über einen dem EMRK-Schutzsystem vergleichbaren Grundrechtsschutz verfügt. Die bloße Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft mag zwar einen Wert an sich darstellen, doch kann sie ebenso wenig wie die völkerrechtliche Pflicht, geschlossene Verträge einzuhalten, Grundrechtseingriffe rechtfertigen. Die Herleitung des vom EGMR entwickelten Rechtfertigungsgrundes greift daher bei genauer Betrachtung zu kurz. Der auf dieser Grundlage von ihm formulierte Solange-Vorbehalt ist in der Sache hingegen zutreffend gefasst und bringt zum Ausdruck, warum staatliche Grundrechtseingriffe unter Vollzug von Gemeinschaftsrecht mutmaßlich gerechtfertigt sind.


Auch erscheine


die Einschätzung des EGMR, wonach der Gemeinschaftsgrundrechtsschutz dem von der EMRK geforderten Schutzniveau entspricht, als bedenklich. Vor allem die nur eingeschränkte Möglichkeit, Individualnichtigkeitsklagen gegen Gemeinschaftsrechtsakte mit allgemeiner Geltung zu erheben, führe zu einer spürbaren Grundrechtsschutzlücke auf Gemeinschaftsebene. Auch Richter Ress lege in seinem – gleichwohl zustimmenden – Sondervotum zur Bosphorus-Entscheidung den Finger in diese Wunde des gemeinschaftlichen Rechtsschutzes. “Die gerichtliche Durchsetzung von Grundrechtsgewährleistungen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage ist nur nach Maßgabe des Art. 230 Abs. 4 EGV bei Vorliegen einer individuellen und unmittelbaren Betroffenheit des Klägers möglich. Der Kläger kann nach der Rechtsprechung des EuGH nur geltend machen, individuell betroffen zu sein, wenn die streitige Vorschrift ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten einer Entscheidung. Diese restriktive Auslegung von Art. 230 Abs. 4 EGV hat zur Folge, dass Individuen regelmäßig keinen Rechtsschutz gegen Gemeinschaftsrechtsakte mit allgemeiner Geltung, die keines weiteren Vollzugsaktes bedürfen, erlangen können. Dies betrifft z. B. EG-Verordnungen, die unmittelbar Verbote aussprechen.”


Auch heißt es:

“Die[] Komplettierung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes durch die nationale Gerichtsbarkeit mag aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts hinreichend sein, macht aus der Perspektive der EMRK den vom EGMR erklärten Solange-Vorbehalt zugunsten der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit aber fragwürdig. Der Vorbehalt zugunsten des EuGH entpuppt sich bei genauem Hinsehen nämlich teilweise als Vorbehalt zugunsten der nationalen Gerichtsbarkeit, die die Lücke im gemeinschaftlichen Individualrechtsschutz schließt. Einen Vorbehalt zugunsten des nationalen Rechtsschutzes darf der Menschenrechtsgerichtshof jedoch de lege lata nicht erklären, da er sich dadurch seiner ihm durch die EMRK zugewiesenen genuinen Aufgabe entziehen würde. Es ist dem EGMR rechtlich nicht möglich, seine eigene Jurisdiktion etwa unter Hinweis auf einen vom Bundesverfassungsgericht gewährleisteten EMRK-äquivalenten Grundrechtsschutz zurückzunehmen.”


Zuletzt wird moniert, dass 

“[die Kontrollrücknahme vorliegend zugunsten einer Institution gehe], die seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten [Stand 2006] über keinen eigenen, geschriebenen verbindlichen Grundrechtekatalog verfüge.” Überdies fehlten (außerhalb des Sondervotums) schlichtweg handhabbare Kriterien, wann von einem offensichtlich ungenügenden Grundrechtsschutz auszugehen ist. 



Die Entwicklung der Rechtsprechung seit Bosphorus zeigt jedoch mE nach aller Kritik zum Trotze auf, dass die vermeintlich „hohe Hürde“ zur Darlegung eines manifesten Defizits durchaus zu überspringen ist, bzw. in Einzelfällen abgesenkt werden kann und das auch wird.  

So hat insb. das Urteil des EGMR v. 6. Dezember 2012 – 12323/11 (Michaud/Frankreich) offenbart, dass die Gleichwertigkeitsvermutung im Sinne des Bosphorus-Urteils auf solche Fälle keine Anwendung findet, in denen der im Unionsrecht vorgesehene Kontrollmechanismus nicht in vollem Umfang zum Einsatz gekommen ist. Es heißt dort, von der erforderlichen Gleichwertigkeit des Grundrechtsschutzes in der EU mit demjenigen des Konventionssystems sei nicht auszugehen, da das Rechtsschutzsystem der EU keine Kontrolle der Anti-Geldwäsche-Richtlinie (streitgegenständliche Norm) am Maßstab von Artikel 8 EMRK durch den EuGH erlaubt habe. Gegen eine Anwendung der Bosphorus-Vermutung spreche zudem, dass hier eine Richtlinie umgesetzt worden sei und Frankreich mithin über einen Umsetzungsspielraum verfügt habe. Schließlich, so der Beschwerdeführer, sehe das Rechtsschutzsystem der EU – anders als dasjenige der Konvention – keinen direkten Zugang für Einzelne zum EuGH vor. Mit eigenen Worten: Bereits der Auftritt des nationalen Ermessensspielraumes bedeutet, dass Damokles, der eben noch mit dem scharfen Schwert der Äquivalenzvermutung den Rechtsweg zum EGMR beschneiden konnte, leisen Fußes in die Kulissen verschwinden muss. 

Andererseits: Die zum materiell-rechtlichen Schutzniveau in der EU erfolgten Feststellungen im Bosphorus-Urteil werden nun angesichts der seit 2009 bestehenden Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta umso mehr gelten. 

Dennoch: Im Fall Michaud hat bspw der französische Conseil d’Etat - obwohl in einer vergleichbaren Sache noch nicht entschieden worden war - darauf verzichtet eine Vorlage an den EuGH zur Frage der Vereinbarkeit der Richtlinie mit Artikel 8 EMRK anzustrengen. Dies genügt dem EGMR bereits um festzustellen: In the light of that choice and the importance of what was at stake, the presumption of equivalent protection does not apply. 

Meines Erachtens nach wird in diesen Ausführungen des Gerichts gut sichtbar, wie eine vermeintlich generalisierende Rechtsprechung (grds. Gleichwertigkeit des Schutzniveaus) wie Bosphorus die Basis dafür bilden kann, im Angesichts des konkreten Einzelfalls umso beherzter (nämlich mithilfe der rhetorischen Figur des Extrapolierens eines Bruches mit dem Grundsatz) ein Absinken des Schutzniveaus unter die erforderliche Schwelle zu monieren und zu sanktionieren.


Fazit


Die Konstellation der versuchsweise von mir so genannten modulierbaren Zugriffsintensität zwischen den Organisationseinheiten ist insbesondere angesichts der beigelegten Beitrittsverhandlungen (EU -- EMRK) interessant, weil somit ein flexibler Mechanismus errichtet worden zu sein scheint, der auf Notwendigkeiten angesichts der Entwicklung des Grundrechtsschutzniveaus (gewährleistet durch die EU, aktuelles Beispiel: Polen) zu reagieren vermag. Von welcher Haltbarkeit dieser sein würde, war zum Zeitpunkt des Urteilsspruches 2005 wohl noch nicht absehbar: Man hatte in der Lit. den Bosphorus-Grundsätzen für die Zeit nach dem Beitritt der EU zur EMRK mehrfach prophezeit, obsolet zu werden. Zum Gesamtbild der Integration verschiedener supranationaler Organisationen, indem Bosphorus sicherlich ein großer Mosaikstein ist, gehört allerdings auch die Betrachtung einer Inversion der Öffnungsbewegung, namentlich die Frage, ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Gemeinschaftsrecht nicht nur (mittelbar) überprüft, sondern auch zu dessen Durchsetzung tätig wird. Dieser Aspekt wird in der Literatur erörtert und bejaht.

 Somit erweist sich alles in allem die Befürchtung, der EGMR ziehe sich mit Bosphorus aus seiner Verantwortlichkeit hinsichtlich der Gewährleistung eines einheitlichen Menschenrechtsstandarts zurück, als überzogen. Insbesondere auf dem Wege und unter der Voraussetzung einer Kooperation der beteiligten Gerichtshöfe (zB Vorabentscheidungsverfahren) kann auch ohne eine durchgängige Einzelfallprüfung ein Schutzniveau im Sinne der EMRK gewährleistet werden. 






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