Einreichung zu einem Schreibwettbewerb mit dem Thema Utopie

Notizen zu einem Bettgespräch mit Christian Lindner


"Bei den Ausdrücken historische Notwendigkeit und deutsches Schicksal kommt mir das Kotzen" (Samuel Beckett)



Ich weiß genau, dass sie nichts gegen Dich in der Hand haben. Die Reporter von Stern TV laben sich nur an ihrer zynischen Scheißhaltung, alles verächtlich zu finden, das man irgendwie schafft verachtenswert darzustellen. Zum Beispiel hier, in der Sekunde 25, diese Kamerafahrt um die S-Klasse herum, von der Ihr betont, dass sie ja ohnehin nur geleast ist. Weil das Nummernschild zensiert ist, hat man sofort die Assoziation von Kinderschänder, Niedrig und Kuhnt — Kommissare ermitteln, Steuerbetrug oder ähnliches, weil uns die Bildzeitung gelehrt hat zu trennen zwischen gesund für den Volkskörper und den Parasiten („Wir haben ihn aufgenommen, wie einen Sohn“). Und wer nichts zu verbergen hat, kann ja schließlich frei heraus zeigen, wer er ist.

Reaktionär ist diese Art von Presse, deshalb mein Schatz, weil in der Diffamierung des politischen Gegners kein Fortschritt stecken kann. Es ist die reine Katharsis. Die da oben, so heißt es immer, können ja nur zu Chefs geworden sein, weil sie Narzisstische Persönlichkeitsstörungen haben, das lässt sich sogar mit Studien aus der Psychologie belegen. Dann kann man da selber unten stehen bleiben und als Kellnerin über das ausbleibende Trinkgeld fluchen, weil es nicht irgendwie ich bin, der sich in eine Scheiß Lage gebracht hat, weil nicht etwa ich mit einem scheiß System paktiere, sondern irgendein verdrehter Weltgeist oder eine Finanzverschwörung, die mich systematisch aushöhlt, mir das Wasser abgräbt, ist zur Verantwortung zu ziehen, was aber nicht gehen wird, weil es ja eine Eigenschaft dieser Verschwörer ist, dass sie sich gegenseitig stützen.  

Mich interessiert es nicht wirklich, dass Du gerade schon mit zwei Jobs quasi 6,5 Tage die Woche arbeitest. Ich finde solche Einzelfallbetrachtungen uninteressant. Und es ist nichts heteronormativ daran, dass ich Dich bitte, die Pille danach zu nehmen, insofern ich davon ausgehen kann, dass wir beide in einer Phase unseres Lebens sind, die uns in jeglicher Hinsicht maximale Flexibilität abverlangt.


Bei Rilke heißt es irgendwo, dass die Zeit das einzige Gut ist, das unter allen Menschen gleich verteilt ist, aber derjenige, der jede Sekunde einzeln verrinnen sieht, und das würde ich, mit einem kleinen Baby, das mir jede einzelne Sekunde potentiell meine Zuwendung abverlangt, der wird als Buchhalter über seine sich akkumulierende Passivität außerhalb des oikos irgendwann ganz zwingend durchdrehen und Hand anlegen, an die ganze Bagage. Sie aufs Ärgste abmetzeln oder zumindest auf ganz rücksichtslose Art und Weise seinen Rücken ihr zukehren, der Sonne strammen Schrittes entgegen.

{Bearbeitervermerk: Finden Sie die ideologischen Imprimaturen in dem Call for Papers}

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