Radikalflaneur:innen (über Anne Kapsner: "Ja mei, wohin soll’s schon gehen?")



 Radikalflaneur:innen


von Janik Hauser


Es gibt gehen und es gibt flanieren. 


Gehen ist 

Schatz-ich-geh-kurz-zum-Bäcker und 

flanieren ist 

ich gehe /  jeden Tag / wie ein Zen Meister / an dem Geschäft des Untertanen, dem Hasskollaborateur / bedächtig vorbei / magnetisch unbeirrt / und spucke, wenn die Galle soweit ist / meine ganze Geringschätzung auf seine Schwelle. 


Flanieren ist subversiv. So könnte man es auf Elfenbeindeutsch sagen. 


Wir flanieren. Wir sind eine eingeschweißte Crew, schon als wir uns für den Hörspaziergang im Foyer der Kammerspiele versammeln (unter dem neckisch gehobenen Zeigefinger der Therese). Gewissermaßen im geistigen Gleichschritt – auch wenn wir alle unser eigenes Tempo verfolgen. Aber wir alle öffnen unseren Blick. Wir nehmen uns Zeit. Wir starren die uns vermeintlich bekannte Stadt so lange an, bis aus ihren Ritzen die Vergangenheit quillt. Nicht so, wie sie war. Sondern, wie sie uns vorgelegt wurde. Von jemandem, der sie selbst nur zusammengesammelt (Borges würde sagen “erträumt”) hat. Aus den Archiven. Denn dabei gewesen ist fast keiner von uns. Damals. Zu Thereses Zeiten.


Die Partitur zu dieser Versammlung zu Ehren der Unbeugsamen liefern Anne Kapsner und Konsorten: Die Musik stammt von Bands, die allesamt aus dem Dunstkreis der Kammerspiele sind. Interviews. Soundcollagen. Mitglieder des Ensembles leihen der Spurensuche ihre erfrischend unterschiedlichen Stimmen. Es entsteht ein vielfarbiger Teppich mit verzerrten Motiven (gewissermaßen polyperspektivisch wie bei einem kubistischen Gemälde), bei dem aber nicht jeder Faden zu einem Ende führt. Umschifft wird somit die Gefahr, den unbewanderten Rezipient:innen das Gefühl von Abgeschlossenheit  zu geben, wie dem Affen Zucker. Die Illusion einer Zentralperspektive. Aus der heraus sie festzuzurren wäre, die arme Therese, die sich nicht mehr wehren kann (außer vielleicht mit einem Blitzschlag aus dem Schauspielerinnen-Himmel)


Vielleicht kann man das, was wir da machen, am besten beschreiben als Tanz. Um eine leere Mitte. Denn so ist es ja, das Schicksal eines jeden Schauspieler-Menschen (sei es die Paula Wessely, die noch immer in der Burg hängen darf, Sarah Bernhardt, wie-sie-alle-heißen): Es mag zu ihren Lebzeiten Postkarten von ihnen geben. Große Plakate. Sammelbilder. Ganze Dramentexte als Monumente ihnen zu Ehren. Aber eigentlich versinken diese Wesen beständig in dem Text unzähliger Autoren. Verblassen in der unterbelichteten Überbelichtung durch die Kritik. Und gehen mit dem Schlussapplaus Abend um Abend in Dunst auf. Ihr Medium ist nunmal der flüchtige Moment.


Wir tanzen, könnte man meinen, also diese rituellen hermeneutischen Kreise um ein Künstlerleben. Diesen Wie-war-Bob-Dylan-wirklich-Tanz. Mit dem man im Endeffekt nur die Marke heraufbeschwört. So ist es aber nicht. Es ist dem Team Kapsner durchaus bewusst, wie naheliegend die Gefahr der Festschreibung ist. Die Macher:innen nennen ihr Projekt dementsprechend im Nachgespräch auch über -Schreibung. Und wählen aus unzähligen Fotos für das Titelblatt des Programm-Flyers nicht das ikonische, das jeder kennt, sondern eines, auf dem Giehse etwas erschlafft wirkt, aus ihrer Mitte gebracht. Wählen einen ungeschminkten Moment der Ermüdung im anhaltenden Kampfgeschehen.


Und wie häufig, wenn man den Blick auf einen Lebensweg lenkt, sieht man an so mancher Ecke einen Wegweiser aufblinken. An den Künstler:innen-Biographien wird zwischen den Zeilen das Gestell sichtbar (die Disziplinierung, die Kulturpolitik). So dürfen wir mithilfe des Hörspaziergangs dort lesen, wo der kulturelle Machtapparat sein Gesicht verbirgt. Wir lernen: Damals hat man der Therese davon abgeraten, es als Schauspielerin zu versuchen. Weil… naja. Wie soll man das ausdrücken? (Gute Frage. Schwer etwas auszudrücken, das eigentlich als verschwiegenes Nullmorphem subtil seine sedierende Macht entfalten soll… (Dennoch schweben die aufgescheuchten Geister ruhelos umher: Marie Trintignant. Reeva Steenkamp. Kasia Lenhardt). Sagen wir es so: das sogenannte Pretty Privilege hatte man der Therese damals abgesprochen. Dieser Burschikosen. Diesem Jungen-Mädchen. Der Lesbe. Sie hat den Kampf um ihr künstlerisches und biographisches Selbst außerhalb der Schublade dennoch aufgenommen und bis zum Ende entschlossen geführt.










Zum Weiterlesen: 

Zentralperspektive NMS Reader

Mal d’ Archiv 

Kippfiguren 

Jungen-Mädchen 

Irmgard Keun

Borges 

Jelinek: Burgtheater


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