fwd: Theater und das Ende der wokeness

 Theater

Gier nach Leben

Lesezeit: 3 Min.

Halt suchen, Liebe, Zärtlichkeit: Edmund Telgenkämper (hinten) und Elias Krischke.
Halt suchen, Liebe, Zärtlichkeit: Edmund Telgenkämper (hinten) und Elias Krischke. (Foto: Armin Smailovic)

Ein fantastischer Schauspielabend für die Freiheit, eine Hommage an das schwule München der Achtzigerjahre: Lion Christs „Sauhund“ an den Münchner Kammerspielen.

Von Egbert Tholl

Die Aufführung läuft schon eine Weile, da verlässt sie die Vorlage. Und wird politisch. Wir befinden uns in Bayern, in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, das HI-Virus grassiert und Peter Gauweiler, damals Staatssekretär im bayerischen Innenministerium, fordert einen Maßnahmenkatalog gegen Aids-Kranke.

Er lässt Razzien in der Schwulenszene durchführen, führt Zwangstests ein, angeblich befürworten 77 Prozent der Bevölkerung eine Meldepflicht für Aids. Und Kultusminister Hans Zehetmair poltert, unterfüttert von altphilologischer Bildung, Schwulsein sei „contra naturam“, also gegen die Natur.

Das alles hört man in Einspielungen im O-Ton der Zeit, man sieht auch Aufnahmen von einer Demonstration, die für Toleranz eintritt. Und vorne an der Rampe steht der Schauspieler Elias Krischke, verschwindet in einer Wolke aus Bühnennebel und sagt: „Ich vermisse niemanden mehr, und niemand vermisst mich.“

Vor knapp zwei Jahren erschien der Roman „Sauhund“ von Lion Christ, jetzt brachte ihn Florian Fischer auf die Bühne des Schauspielhauses der Münchner Kammerspiele. Christ ist ein fleißiger Literaturstipendiat, er weiß, worüber er schreibt, auch wenn er zu der Zeit, in der sein Roman spielt, noch gar nicht geboren war.

Aber er hat sauber recherchiert und nur wenige Fehler gemacht, hat alte Schwulenmagazine durchforstet, sich in die Geschichte jener Orte, Clubs, Discos hineingearbeitet, die dafür sorgten, dass München einst eine Metropole des schwulen Lebens war. Dann kam Aids, dann kam Gauweiler, und doch ist heute noch einiges von diesem Leben übrig. Nur längst nicht mehr mit der blühenden Grandezza einer Zeit, in der Freddie Mercury im Henderson Geburtstag feierte und eine legendäre Getränkerechnung beglich: 82 500 Mark.

Lion Christ: "Sauhund"
:Es spatzelt

Lion Christ versucht sich in seinem Debüt "Sauhund" an einer bairischen Erzählung über einen schwulen Jungen im München der Achtziger. Aber wo bleibt das Gfui?

Von Christiane Lutz

Lion Christ – ein Kunstname, der an Lena Christ oder Lion Feuchtwanger erinnert – stammt aus Bad Tölz und lebt inzwischen in Leipzig. Als seinen Sauhund (bairisch für Schlitzohr oder auch Mistkerl) erfindet er den Flori, der stammt aus einem Dorf in der Nähe von Wolfratshausen und hat gerade seinen Zivildienst in einem Altenpflegeheim hinter sich gebracht, wo er die reizende Frau Eichinger kennenlernte. Jetzt arbeitet er im Loisachkaufhaus und träumt von Freiheit und davon rauszukriegen, wer er eigentlich sei. Die Frau Eichinger liefert da einen Anstoß, besucht ihn im Kaufhaus, überredet ihn, das rote Kleid aus falschem Satin anzuprobieren.

Schwulsein in einem Dorf in den Achtzigern war kein Spaß, auch wenn die Frau Eichinger nett ist und die Mam (die Mutter) dem Flori voller Verständnis und Sorge den aktuellen Spiegel hinlegt, auf dem Titel die vier großen Buchstaben der neuen Krankheit. Auf dem Dorffest lernt der Flori den Gregor kennen, Schreiner, spezialisiert auf Eckbänke und Herrgottswinkel, das wäre schön mit ihm, aber für die ersten Versuche im schwulen Sex fahren sie mit Gregors tegernseeblauem Kadett tief in den Wald hinein, weil offen schwul leben, das geht hier nicht. Und so haut der Flori ab nach München.

In den 90 Minuten seiner Inszenierung dreht Florian Fischer das Drollige der Vorlage ins Dringliche

Christ schreibt Hochdeutsch und dazwischen viele Dialoge in einem charmanten Bairisch, die klingen wie aus einer Helmut-Dietl-Serie entlehnt, Spatzl, schau, wie ich schau. Obwohl der Flori in München abstürzt, seine Freundin Theresa ausnimmt, nichts auf die Reihe kriegt, ständig besoffen ist, zum Stricher wird für 30 Mark und ein paar Rum-Cola, auf dem Herrenabort arbeitet und in der Bahnhofsmission schläft, bis ihn ein schwules Paar aufnimmt und ihm eine Würde des eigenen Seins beibringt, wirkt hier alles eher drollig. Nichts tut weh, ganz anders als etwa in Kim de LʼHorizons „Blutbuch“. In der Aufführung jedoch, da ist der Schmerz da.

In den 90 Minuten seiner Inszenierung dreht Florian Fischer das Drollige ins Dringliche. Er braucht da oben, zuerst vor dem Vorhang und dann in einem Raum voller schwuler und auch aufrüttelnder Fotos, Bildzitate, nur drei Menschen für einen fantastischen Theaterabend. Elias Krischke ist Flori und nur Flori, Edmund Telgenkämper spielt alle anderen männlichen, Annette Paulmann alle weiblichen Figuren. Die Inszenierung hat auch immer wieder etwas Erzählerisches, aber aus dem Duktus der Figuren heraus. Alle drei können kein Bairisch, doch das ist richtig hier. Gemütlichkeit ist bestenfalls ein Versuch.

Wie Paulmann sich von der sorgenden Mam in die lustige Frau Eichinger in die umtriebige Theresa verwandelt, ansatzlos, das ist atemberaubend. Genauso wie Telgenkämper Generationen toller Kerle oder soignierter Herren spielt. Am Ende verliebt sich Flori in Jakob. Jakob hat Aids. Telgenkämper wirkt auf einmal, als habe er 20 Kilo verloren, man weiß nicht, wie, aber mehr muss er gar nicht tun. Es gibt einen langen Kuss mit Krischke, dem herzzerreißenden Schmerzensmann. Daneben sieht man Filmbilder von Aids-Kranken.

Fischers Inszenierung ist zusammen mit dem grandiosen Musikhintergrund von Ludwig Abraham auch ein Requiem. Einmal sieht man im Video ein vielleicht letztes, überbordendes Konzert von Queen, aber dann hört man Marvin Gayes „Inner City Blues“ als sanfte, rein instrumentale Erinnerung, während sich Flori endgültig als strahlender Schmetterling entpuppt. Aber dieser Abend bleibt nicht in der Erinnerung kleben, er setzt vielmehr aus dieser heraus dem drohenden Ende der Wokeness etwas entgegen. Es geht ja nicht ums Schwulsein allein, sondern um alles, was dem Heteronormativen, auch dem Prüden und Faden, entgegensteht. Nicht gewollt ist. Dazu braucht man nicht einmal in ferne Länder zu blicken.

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