on toxic interpretation


Die wunderbare Susan Sontag hat in ihrem essayistischen Werk, aber mE vor allem mit ihren zu unrecht vernachlässigten erzählerischem Frühwerk ein Schlaglicht darauf geworfen, wie verkackt und sozialschädlich die Geste des Interpretierens sein kann.


Mir scheint im zeitgenössischen Kontext der QAnon-Bewegung muss man diesem Gedanken noch etwas Würze beifügen.


ZETTELNOTIZEN (folgen)


Politik (denn auf diese beziehen sich die "leaks" der Q**-Bewegung) wird somit zur Kunst erhoben. Zu einem inerpretamenturus. Also zu einem zu interpretierenden Stück Text. Der dadurch eine Aura bekommt. Das Original wird heilig gesprochen, ihm haftet durch seine Rahmung als Offenbarung ein Wert an, der über denjenigen eines Kommunikats (also seinen kommunikativen Gehalt) hinausgeht. Das macht den Reziepienten* aber immer gleichermaßen zu einem kreativ geforderten Akteur, wie es ihm sein Scheitern am Text immer wieder vor Augen führt. Denn eine letztgültige Interpretation gibt es schlicht nicht. Es gibt eine herrschende, meinetwegen, aber keine, die den Text als auratischen völlständig erschöpfen kann. 

Dies macht ein redlicher Leser, eine redliche Leserin sich ständig klar, und versetzt ihn oder sie in einen Zustand der Demut vor der Sprache und den Dingen in der Welt. Aber diese redlichen Leser*innen werden seltener und seltener. Während die Menge an narzisstischen Leser*innen zunimmt. Für diese ist ihr Interpretament per se ein Objekt, dass sie mit dem größten Stolz und der größten Selbstgefälligkeit vor sich hertragen. Ungeachtet dessen diskursiver Nützlichkeit. Dies erinnert an kleine Kinder, die auf ihren Stuhlgang so ungeheuer stolz sind. Siehe! Das habe ich gemacht, sagen sie aus der reinen Begeisterung über ihre Wirkmacht, nicht bedenkend, dass es sich um Abfall handelt. 

Auf etwas stolz zu sein, ich möchte hier nicht falsch verstanden werden, ist gesamtgesellschaftlich noch kein Problem. Aber wo kämen wir hin, wenn wir unsere Scheiße uns gegenseitig auf einmal alle ins Gesicht schmieren würden und dies als altruistische Geste feiern zu müssen glaubten? Ganz recht. Wir kämen in eine Situation, insofern der heutigen vergleichbar, wo man vor lauter Scheiße NICHT MEHR KLAR SIEHT. Twitter destilliert dieses Bedürfnis nach Wirkmacht. Es zwingt uns, unsere Affekte aufzusuchen, diese in knallige Sprache zu verpacken. Viel j'accuse und Andeutungen zum Zwecke der Diffamierung anstatt Darlegung von Fakten, Strukturen, Deutungsmustern, Argumenten. (Das gegenteilige Verfahren politischer Willensbildung wäre allerdings mE höchstwahrscheinlich eines, das weniger gebildete, weniger intelligente, mit Erwerbsarbeit voll beschäftigte Gruppen zwangsläufig und notwendigerweise ausschließen muss)


Das verrückte bei dem momentan an Zuspruch gewinnenden Vorgehen : die Scheiße fühlt sich wie Politik an. Wie tatsächlicher Meinungsaustausch. Und gerät so zu einer Sublimierung tatsächlichen politischen Denkens.


Ich möchte diese Sprache der Trolle genauer verstehen. Daher soll die Tage eine Untersuchung einzelner Bausteine erfolgen, die diese Akteure ausmacht. Sie benutzen Bilder. Unterstellen einem Verachtung, wo es nur geht, nur um damit selbst eine Rhetorik der Verachtung legitimieren zu können.


So weit so gut


Viele liebe Grüße


der einsame Chefredakteur



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