Versuch einer Theaterkritik

Einmal Utopie Rot-Weiß



Ruby Behrmann verhandelt Europa im Künstlerhaus Mousonturm als eine liebenswerte Frittenbude 


(aa) Am Anfang war das Dispositiv. 

Schon als ich an der Garderobe meine Verantwortung für den Abend abgeben wollte, mich in die Rolle des Konsumenten rettend, wird klar, dass es den Zuschauer ohne das Päckchen, das jeder von uns zu tragen hat, nicht geben kann. Ebenso, wie die Aufführung ohne Spuren ihrer Entstehungsbedingungen. Eine Art Vibrator in der Hand, flauschige Hausschuhe an den Füßen und einen Rucksack, der gleichzeitig Sitzsack ist auf dem Rücken betrete ich den Raum, den Johannes Karl in die Studiobühne des Mousonturms eingerichtet hat: Boden aus grauen Pflastersteinen, vier beinahe lebensgroße Straßenlaternen und (anfangs noch in gleißendem Weißlicht episch von hinten beleuchtet) eine Bretterbude, die ein Pförtnerhäuschen sein könnte, oder ein Geräteschuppen in einem Schrebergarten. Drinnen Familienfotos, ein kleines Mischpult, Lebensmittelpackungen und viel anderer Kram.

Der Raum füllt sich, Menschen flätzen sich in Gruppen oder einzeln auf den Boden (die portablen Sitzsäcke machen es möglich) und warten, dass etwas losgeht. Die Bude in diesem stark filmisch/naturalistischen Bühnenbild evoziert einen Guckkasten, in dem sich gleich etwas abspielen wird. Langsam werden die Straßenlaternen aufgedimmt, doch sonst bleibt die Szenerie scheinbar eine reine Installation ohne menschliche Beteiligung. Ich wähne mich in einem White-Cube (Ausstellungsraum), den schlicht jemand mit schwarzen Soffitten ausgehängt hat, um mich zu irritieren. Soll ich mir die Bude doch noch genauer ansehen? Gibt es einen Mechanismus, den wir Zuschauer in Gang setzen müssen? 

(bb) Auftritt: Performerin. 

Sie öffnet die Lade des Hüttchens, macht das Radio an und räumt in ihrem Mikrokosmos herum. Sie sagt nichts, auch wenn man gerade das jetzt erwartet hätte, dass sie eine theatralische Rolle einnehme.  Es zischt, fängt an, nach Bratfett zu riechen. Die Installation entpuppt sich als Frittenbude. Der erste Zuschauer macht sich, wie auf ein geheimes Zeichen hin, auf den Weg zum Tresen. „Ketchup oder Mayo?“— „Beides, wenn es geht“ — „Klar, Du kannst Dir auch an dem Wasserspender hinten einen Eistee nehmen“.

Wer bekommt was vom Kuchen ab, in diesem Raum, der, wie der Titel der Performance vermuten lässt, als Parabel auf das Herz Europas (Deutschland? Die Gründungsländer? Griechenland?) auftritt.  Mancher fragt sich noch, ob er auch in den Genuss einer Portion Fritten kommen wird, ein Zuschauer nimmt gerade einen Anruf entgegen, den die Dame vom Grill, die auch Telefonistin zu sein scheint, jenem soeben vermittelt hat, als plötzlich die 

(cc) Opernsängerin auftritt. 

Rotes Kleid, kurze Haare, im Vergleich zur Frittenfrau ausgestattet mit überwältigender Präsenz im Raum (falls dem Leser dieser Ausdruck aufstößt, behelfe er sich mit Wille-zum-Bühnenzeichen). Und sie singt lauthals und ungeheuer schön, während sie den Raum durchschreitet, an den liegenden Zuschauern vorbei. Trash meets Hochkultur. Eine Erscheinung, wie aus einer anderen Welt. Ist sie die Blitz-Eingebürgerte aus Jelineks Schutzbefohlenen, deren Stimme die Eintrittskarte in das "Paradies Europa" (ähnliches propagiert an einer Stelle auch das Radio, Sender: „Radio Europe“) ist, während abertausende Schutzsuchende vergeblich an die Tore der Außen- und Binnengrenzen pochen? Es wird nicht aufgeklärt. Ebenso wie die Pommessbude, die Sitzsäcke, das Trinkhallen-Straßen-Setting bleibt sie eine schwebende Metapher. Ein eindrucksvolles disruptives Moment in dieser Raum-Parabel. 

Was funktioniert an diesem Abend, ist die tatsächliche (oft wurde es gefordert, noch öfter versucht und doch so furchtbar selten erfolgreich) Auflösung der Sehordnung, in der ein passiver Zuschauer in einem abgedunkelten Parkett, der hell erleuchteten Zeichenmaschine Guckkasten gegenübersitzt und diesem dabei eigentlich untergeordnet ist. Man fühlt sich bei Bohrmanns Abend an Relational-Art-Konzepte erinnert: einmal schön zusammen Suppe kochen im MoMa, ein Ereignis teilen oder es sogar selbst produzieren, anstatt sich von der deutungshoheitlichen Riege der immer gleichen Kunstschaffenden beschulen zu lassen. Nur mit dem Unterschied, dass das hier wirklich kein Stück unangenehm ist. Das Bedürfnis, mich mit meiner Nachbarin zu unterhalten entsteht wie von selbst, und nicht auf Anweisung des Kuratoren hin, oder als impulsive Gegenreaktion, wie bei der Uraufführung von Handkes Publikumsbeschimpfung. Ich fühle mich wohl und als ein gleichberechtigter Teil des Raumes.

Was aber fraglich bleibt, was das Ganze mit Europa zu tun hat. Oder noch mehr: Was eine Masterarbeit aus Gießen überhaupt mit einem der komplexesten Gemengelagen des hiesigen Kontinents unserer Zeit zu tun haben MUSS. Was haben denn Jungspunde wie wir zu diesem Thema beizutragen, außer Steinkunde von der Griechenlandexkursion, Gourmet-Annotations vom Gardasee-Urlaub oder Correctness-Aproaches aus dem Stockholm-Erasmus? Als ein Alien wünsche ich mir, das Interesse der Künstler zu erkennen, ihr Movens. Das Thema scheint hier eher ein Gütesiegel für überzeitliche Relevanz. Und als solches verkauft unter Wert. A bit too fast for food.

Wir sind endlich (!) eine öffentliche Versammlung im Sinne Judith Butlers : )
Ob wir jedoch in diesem Sinne prekär sind, bleibt fraglich : (
[jh]


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