Manische Depression /Thomas Melle / Die Welt im Rücken / Problem der "Erzählerinstanz"

Lieber Thomas,

der Autor als Instanz mag schon länger tod sein. Aber ich habe das Gefühl, nachdem ich Ihren Roman gelesen habe, dass Sie ihn wieder haben aufleben lassen.

Denn NATÜRLICH ist in Ihrem Roman eine Erzählerfigur, die man literaturtheoretisch von Ihrer biographischen Person trennen muss. Das ist ja auch alles schön und gut.

Aber beim Lesen Ihres Buches passiert dann doch noch was anderes. Und um das in Worte zu fassen bin ich heute angetreten.

Sie schreiben es ja selbst: in früheren Erzählungen ging es auch schon um Ihre verhökerten Plattensammlungen, um Ihre verbrannten Freundschaften, kurz um Ihre Krankheit. Aber da war alles noch artifizieller gefasst und also auf eine Weise WEITER WEG VON DEM, WAS SIE EIGENTLICH SAGEN WOLLTEN.

Denn es ist ja so, als manisch-depressiver Mensch: Man möchte so sehr gerne verstanden werden. Man möchte aus der eigenen verspulten Gedankenwelt ausbrechen und mit allen anderen wieder eine GEMEINSAME kohärente Welt erzählen dürfen.

Und dieses Bedürfnis, dieser Schrei nach Liebe, ist natürlich schwer zu stillen, wenn man gefangen ist in dem Spalt, zwischen dem ureigenen Redebedarf, dem höchstpersönlichen  Wunsch, Schwächen zu offenbaren und den Obligationen eines arschcoolen arroganten Kunstmarktes, auf dem jeder Autor sich selbst inszeniert und mit seiner Selbstinszenierung positioniert. Und innerhalb des Textes wird ja eh alles nur dem "Erzähler" zugerechnet, dieser unverletzbare Avatar der vulnerABLEN ("ability" ist Fähigkeit) Autor*innen-Person. 

Ja, no FUCKING WAY OUT. Das ist tragisch. Gerade wenn es einem WIRKLICH UM ETWAS GEHT. Um etwas anderes als FAME und Aufmerksamkeit um ihrer selbst willen.

Man hört ein Rumoren gegen diese Quarantäne-Situationen des Autors -- wie sollte es anders sein -- in den Texten von Elfriede Jelinek (zB die Schutzbefohlenen), wo sich durch das Gewebe des Theatertextes immer wieder tollpatschig eine zweifelnde, selbstironische Instanz zu Wort meldet, die offenbart, wie sie sich DAS HIER (der Text) gerade zusammendenkt, wie sie mit dem Denken zaudert und stets wieder an der Sprache scheitert.

Hier löst sich das Plädoyer von Roland Barthes ein, dass für den Schriftsteller die Sprache zum Problem werden sollte. Dass
nicht eine leichte Beziehungen zur Leserschaft sondern eine komplizierte Beziehungen zur Wahrheit schreibend hergestellt werden solle.


Durch diese piepsige Stimme, dieses Falsett der Autorschaft ist es möglich, das Dispositiv zu benennen, in dem sich die Literatur befindet. Gleichzeitig der Ort, der den Schrei nach Liebe erst so verzweifelt wiederhallen lässt.

Ich danke für die Erfahrung des Lesens. Ich denke, Sie haben sich weit aus dem Fenster gelehnt. Und mir tatsächlich eine Stimme verliehen. Das klingt kitschig. Aber anders sagen kann ich es nicht.


Literatur

Agamben, Giorgio. Was ist ein Dispositiv?. diaphanes, 2008.


Barthes, Roland. Kritik und wahrheit. No. 218. Suhrkamp, 1967.
APA
Foucault, Michel. "Authorship: what is an author?." Screen 20.1 (1979): 13-34.

Zimmermann, Hans Dieter. Vom Nutzen der Literatur: vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der literarischen Kommunikation. Suhrkamp, 1979.

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