Drop 1

An meinen lieben Freund Nils


Als Kind hatte ich eins dieser mongolischen Ponys, die damals eine zeitlang in Mode waren. Ich erinnere mich noch gut, wie am Morgen meines elften Geburtstags der Käfig, mit einer Wolldecke verhangen, neben dem Kamin im Wohnzimmer stand. Als ob ich nicht wüsste, was darunter sein würde, aber ich tat überrascht und meine Eltern taten, als würden sie mir glauben.


Ich taufte es Nils und manchmal nahm ich es sogar, in der Jackentasche versteckt, mit in die Schule, wo ich es – nicht ohne Stolz – meinen Klassenkameraden Kunststücke vorführen ließ, die ich ihm daheim beigebracht hatte. Manchmal wieherte das Pony im Unterricht, dann hustete ich schnell, damit die Lehrer es nicht bemerkten. Ich hätte es auch im Rucksack verstecken können, aber dort würde es sich kaum sehr wohl fühlen, wo es doch die Weite der endlosen mongolischen Steppe gewöhnt war, so dachte ich. Außerdem wiehern mongolische Ponys nicht sehr laut, selbst ausgewachsen wird diese Art schließlich nicht viel größer als ein Hamster. Daher behielt ich es im Mäppchen auf dem Tisch, wo es den Spitzerdreck fraß und mir treue Blicke zuwarf, während ich Zeichnungen von immer absurderen Foltermaschinen und -geräten in meinem Matheheft anfertigte.


Einmal vergaß ich das Pony beim Nachhauseweg im Schulbus und meine Mutter musste mit mir zum Betriebshof der Busgesellschaft fahren, wo nach Dienstschluss die Fundsachen abgeholt werden konnten. Glücklicherweise war das Pony wohlauf. Die Sekretärin hatte es in einen Schuhkarten mit etwas Gras gesetzt, in dem es schlief und von der endlosen mongolischen Steppe träumte. Auch meiner Mutter war die Erleichterung anzusehen, möglicherweise sagte sie sogar etwas wie: na, dann ist ja noch mal alles gut gegangen oder so ähnlich, obwohl sie auf der gesamten Fahrt sehr mit mir geschimpft hatte. Als man mir den Schuhkarton überreichte, erklärte ich jedoch, dies sei nicht mein Pony. Die Sekretärin und meine Mutter wechselten irritierte Blicke, doch ich beharrte so sehr darauf, dass wir, nach etlichem Hin und Her und schließlich, unter Tränen meinerseits, ohne das Pony zurückfuhren und natürlich lässt es sich im Nachhinein leicht sagen, aber ich glaube, etwas in mir hat auch damals schon gewusst, dass es exakt dieser Moment war, in dem ich für immer aufgehört hatte ein Kind zu sein.

ds

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