Revision / Wir vermieten nur an seriöse Mieter (AT) / Dramaturgie-Studiengang

Oftmals verhindern emotionale Dispositionen einen Vorgang der Rezeption, der einem ermöglicht, alles aus einem Kunstwerk zu ziehen, was man unter optimalen Bedingungen daraus ziehen könnte. 

Es mag daher Sinn machen, öfters in Kinofilme zu gehen (wie neulich, als ich das zweite mal Parasite gesehen habe und wieder gefesselt war) oder sich Performances oder Theaterstücke mehrmals anzusehen, oder zumindest den Vorgang der Rezeption innerlich zu wiederholen (indem man sich vor Augen führt, was einen damals beschäftigt hat, indem man sich Notizen wieder vorlegt, indem man nochmal mit Mitzuschauer*Innen spricht).

Als ich das erste Mal Wir vermieten nur an seriöse Mieter (AT) gesehen hatte stand ich unter dem Eindruck negativer Rückmeldungen aus meinem Dramaturgiestudiengang seitens meiner Kommilitoninnen*. Zusagen, in ein bestimmtes Land gehen zu dürfen, die vonseiten des Instituts entschuldigungslos nicht eingehalten wurden, Unmut über das Angebot an szenischen Projekten, einzelne* überlegten sogar, das Studium ganz abzubrechen. All dies war zu dieser Zeit "im Gespräch", Gegenstand des "Geredes". 

Daher verwunderte mich die einmütige Stimmung, die bei dem VVIP-Festival herrschte. Vergleichbar mit dem Parteitag der Demokraten wurden dort Gesten der Gemeinsamkeit eingeübt (gleichzeitiges Spiegelhochhalten, Einrichtung des eigenen Hintergrunds mit den gleichen Lichtobjekten). Die Gespräche über die gesehenen Arbeiten waren durchweg von affirmativen Beiträgen geprägt, wenig Kritik oder Gegenfragen (so mein Eindruck). Das mag daran liegen, dass von den geschätzt 100 Teilnehmenden sicher 90% aus dem Dunstkreis der Uni (Dozent*innen, Ehemalige*, HiWis, etc) stammten. Also somit allesamt Personen, die es sich nicht leisten können oder wollen im Ansehen der Institutsleitung zu sinken. Oder vielleicht waren auch die gezeigten Kunstwerke besonders unstreitbar (diesen Eindruck hatte ich aber eher nicht). 

Alles in Allem jedenfalls keine besonders kritische Stimmung (iSe Anliegens "das „System der Bewertung selbst“ kenntlich zu machen", Foucault und hier auch dementsprechend die persönlichen Sympathien oder epistemologischen Presets der Beteiligten* mitzureflektieren). Und das obwohl ordentlich Dampf im Kessel war, wie ich vermute. Das ist aber eigentlich schon immer so, seit ich dort studiere.  

Und dann also das showing des Projekts Wir vermieten nur an seriöse Mieter (AT). Ein rund vierzigminütiges Video, indem sich zwei junge Menschen über ihre Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche in Frankfurt künstlerisch äußern. Dabei einerseits sehr eng narrativ an ihren eigenen Erlebnissen bleiben (verstärkt wird dieser "Realismus"-Effekt durch Ausschnitte aus Chat-Protokollen zwischen den Protagonist*innen und eine mitunter sehr "alltägliche" Sprechweise) und andererseits um Verallgemeinerung bemüht sind. Flankiert wird diese Nacherzählung durch Songeinlagen und Choreographien (Stapeln von Kisten in einem leeren Raum) und ähnlichem. Diese Abstraktionen sind interessant und sollten Gegenstand einer weiteren Analyse sein.

Im Rahmen dieser Verallgemeinerung kommt es zu einer meines Erachtens problematischen Aussage. Es wird dargestellt, als ob das eigene Erleben ein Symptom der alltäglichen "systematischen" "Diskriminierung" am Wohnungsmarkt wäre. Ich habe den Eindruck, dass hier weiße privilegierte Personen für marginalisierte Gruppen sprechen wollen. Das kann man durchaus als problematisch sehen. Denn der Gestus für andere sprechen zu wollen hat mitunter etwas übergriffiges und imperialistisches an sich. Dies zeigt unter Anderem ein Gespräch zwischen Simone de Beauvoir, Sartre und Alice Schwarzer auf, das ich gerade lese (ich werde den betreffenden Ausschnitt hier zu einer anderen Zeit nachliefern). Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Betreffenden* wissen, was es heißt, als POC eine Wohnung zu suchen. Oder als behinderte Person, oder als Person, die als queer gelesen wird, oder als Person, die als weiblich gelesen wird. Ich glaube nicht, dass die Betreffenden* für alle diese Gruppen sprechen können.

Und deshalb sollte man das vielleicht gar nicht erst versuchen. Und entweder beim eigenen Erleben bleiben. Oder in die Abstraktion gehen. Dann muss man aber darauf verzichten, die eigene Kunst mit den eigenen biographischen Widerständen zu beglaubigen. Eine Pfrund, auf das, so meine These, einigen zeitgenössischen Akteuren* schwer fallen würde, zu verzichten. Denn hier, der Beweis steht noch aus, wird mitunter über eine Rhetorik der Empörung oder der Klage eine moralische Überlegenheit hergestellt, mit der eigenen biographischen Misserfolgen begegnet werden kann. Da Moral per definitionem eine Allgemeingültigkeit beansprucht, entsteht, so eine weitere These, jedoch eine ungünstige Allianz, die ich versuchsweise Rhetorik der revisionistischen Aggression nennen möchte. 

Im Nachhinein ist man immer klüger. Deshalb lohnt sich auch eine Revision mitunter. Und ich habe in der Situation, in der ich die Performance angesehen habe, das Gefühl bekommen, dass Unzufriedenheiten mit dem näheren Umfeld auf das weitere Umfeld projiziert werden. Meine Lesart des Kunstwerks. Nur meine. Dies ist im Hinblick auf die Veränderbarkeit des näheren Umfelds (hier: Dramaturgie-Studiengang an der Goethe-Universität Frankfurt) und im Hinblick auf die Brisanz des Diskriminierungs-Themas meines Erachtens bedauernswert.

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