Polemisches Essay zu Jérôme Bel: Gala im Frankfurt LAB (nachgewürzt am 9. Jan/ und am 25. Januar habe ich noch walter Benjamin zu unserer Schnöselparty eingeladen, aber er hat abgesagt und Kafka vorgeschickt)


Alles beginnt mit einer Polemik: Drei Plastikgartenstühle auf einer Terrasse: Was ist das groß anderes als eine Bühne wie das Wiener Burgtheater? Die Diashows am Beginn von Bels Abend Gala im Frankfurt LAB scheint das Postulat Ulrike Haß‘ einzulösen, dass jene mit Blick auf Mark Lammerts Bühnenräume formuliert: Vollständiges Erfassen des Bühnenraums (als Dispositiv) kann demzufolge nur durch eine Polemik zustande kommen.[1] Auch das Licht von Gala wird sich daran halten: In ein durchdringendes Weiß, das jeder Differenz in dem bunt zusammenkomponierten vorrangig Ballett-Dispositivfernen Ensemble gnädig/gnadenlos in den Blick gibt, ist der ganze Raum getaucht, während die Zuschauer zu keinem Zeitpunkt komplett im voyeuristischen Dunkel verschwinden. Erleuchtung statt Verdunkelungsgefahr.
Überhaupt wölbt sich der Raum beträchtlich zurück, als die erste Darstellerin auftritt. Er reduziert sein Volumen , geht bescheiden in Teile und setzt sich zu den Zuschauern ins Normkollektiv. Ein utopisches Vakuum hinterlassend, dass JEDER VON UNS BESPIELEN KANN. Denn diese Bühne stellt nichts dar, sie stellt etwas aus oder bereit.
Der Abend wird sich nach folgendem Prinzip Fortsetzen: Eine Tanzart wird angeschlagen und alle Performer verhalten sich äußerst individuell dazu. Oft einzeln, mal als Gruppe. Dabei erscheinen, wie Nachtkritik-Rezensentin Simone Kaempf über einen vergleichbaren Abend von Jérôme Bel in Berlin bemerkt, der Tänzer Strategien, „was eine Pirouette sein darf“, weshalb der Abend „viel Empathie liefer[e]“.

Empathie ist ein Begriff der in der Gegenwarts-Theaterpraxis eine wichtige Rolle spielt. Die Installation von täuschend echten Notfallszenen nebst Krankenwagen und Notarzt in einer Kunsthalle oder die Entscheidung für eine Querschnittsgelähmte Expertin des Alltags auf der Bühne, bei der Gruppe Rimini Protokoll sind hier nur zwei Beispiele. Wo findet sich dieses Konzept (auf dem schon ein Lessingscher eleos und phobos-Moment fußt) in dem vorliegenden Stück? Einerseits natürlich in dem Zulassen der Imperfektion auf der Bühne. Ein empathischer Rezipient würdigt den Versuch. Andererseits  könnte sie jedoch auch beschrieben werden, als Mimesis oder Nachvollzug von Emotionen oder Ausdrücken des Anderen im eigenen System. Sie wird so unter anderem zur Konstituente des Abends, wenn die Darsteller einzelne Soli tanzen dürfen, während der Rest des Ensembles diese Soli zu doppeln versucht. Dieses Moment Differenz passieren zu lassen, unakzentuiert, ungeskriptet, subtil, funktioniert für mich als Zuschauer hervorragend, es entsteht eine Reibung zwischen verschiedenen Ausführungen ein und derselben Bewegung, ein Blick aus der Höhle gleichsam, der die Idee von Bewegungen als solche aufscheinen lässt. Bewegung scheint.

Dieser Abend wird, wie ich an dem Pärchen hinter mir bemerke, jedoch auch, durchaus verstanden als Leistungsschau (in etwa im Sinne einer Jahrhundertwende-Freakshow) bei der die Widerständigkeit im Körper des Darstellenden zum Kapital der Effektorientierten stunts wird (voll vergessen, man muss dazusagen, dass alle gar nicht auf der Schauspielschule (// wir machen hier Oklahoma-Beschäftigungspolitik. Die Welt ist eine Bühne, eingestellt wird eh jeder, alles was wir tun, müssen -- uns selbst zu spielen. Das ist, was wir angeben scheidet aus dem Bereich des Möglichen aus... (Quelle WIKIPEDIA und Walter Benjamin)) waren, die hier spielen dürfen. Voll chilliges Refugium in einer Welt zunehmender Kapitalisierung des Kreativen, oder ist das nicht wahr, Herr Drüg (Goethe-Uni), Herr Schiller oder wie sie alle heißen). So antwortet die Frau auf die zehnte Liegestütze eines Kindes: „Ich schaffe nicht mal eine!“. Bei der technisch vermittelt unschlagbar hohen Geschwindigkeit, mit der eine Rollstuhlfahrerin aus dem Ensemble die Bühne überqueren kann, scheint ihre Reaktion (ein Lachen) sich zu überstürzen und sie sich sogleich selbst zu korrigieren (ein „Wow“).  
Eine derart subsummierende Konstruktion eines Andersheitsbegriffes sehe ich zudem in der enthusiastischen Reaktion des Publikums auf einen braungebrannten 60-Jährigen Herren im grellorange-hautengen Joggingdress. Er amüsiert die Zuschauer in einem gesteigerten Maße. In seiner Virilität? In seiner Lebensfreude? Oder wie es durch die Kostümierung , den unnatürlichen Teint und die Stunts, die er versucht vielleicht eher nahegelegt wird, in seinem Hang zur Hyperkorrektur.[2]
Viele dieser Natürlichkeitsgesten des Abends („Verteidigung des eigenen Ausdrucks gegen Nachahmungszwang“, Kaempf) funktionieren für mein Dafürhalten auf diese Weise. Funktionieren heißt hier: Sie-haben-eine-Funktion. Sind Teil einer kurzweiligen Unterhaltungsdramaturgie (der pathetische World-Song von Michael Jackson auf den eine Tänzerin mit Down-Syndrom Gesten des aggressiven Empowerments macht, ist emblematisch für eine unstimmige Schon-Gedeutetheit in den Bühnen-Zeichen), die einer Auswahl eines Regisseurs/Choreographen folgen könnten, der hier die Sehgewohnheiten seines Theaters in-den-Blick-nimmt. Für mein Dafürhalten wird diese Dramaturgie des „inneren Moonwalks“ (Kaempf), die als Geste der Befreiung gedeutet werden kann, lesbar als ein Akt der Entblößung. 
Entblößung deshalb, weil die Mimesis des Darstellers auch als schützendes Gewand betrachtet werden kann, das vor die Blicke des Anderen eine angenommene Identität hält. Denn auch in einer Gesellschaft avancierender Gleichstellungsdiskurse ist dieser Blick der Norm dessen Annäherung an den Imperfekten Performer, den Bel forciert, nicht zwangsläufig freundlich gesonnen. Der Mann im orangenen Dress wüsste vermutlich, wovon ich spreche.
 
 




[1] Wie fortschrittlich die Polemik ist, wird jedoch mit einem Blick auf Brooks Empty-Space-Konzept (alles ist bühne, wir brauchen nur einen Platz und einen Zuschauer/ nicht genz genau OKLAHOMA) schon wieder fragwürdig.
[2] Fehlerhafte Aneignung einer Zeichensprache um den eigenen Status zu erhöhen. Konzept nach William Labov, 1978. (9. Jan: Ich möchte diesen Gedanken gerne transparenter machen, weil er mir wieder bei Focaults Infamen Menschen begegnet ist: Wenn es einen Institutionellen Boden gibt, auf dem die Kleingehaltenen an der Macht (Aufmerksamkeit) der Großen partizipiren können, dann überschlagen sie sich förmlich vor Engagement/ Spielfreude. Das erzeugt in den Augen derer, die die Macht besitzen dann einen komischen Effekt, es funktion-iert. Macht abgeben, weiterherrschen. Nice oder?
Dieses DIVIDE ET IMPERA findet Ihr ganzen [Selbstkorrektur] dann so supergeil, dass Ihr gar nicht umhinkommt diese geniale Strategie, Respekt outzusourcen in die Kunzt [sic!], wortreich zu loben und den Franchiser Bêl für sein Erfolgsmodell den Anti-Mainstream-Stempel aufzudrücken [die Redaktion findet diese Formulierung irgendwie selbstgerecht, sollen wir sie zensieren? Was meinen Sie herr Erdogan, oder auch nur Sie, lieber Leser?])

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