Genrekritik eines Arbeitslosen / heute: Werbung für Theater in Zeiten des Algorithmus
Zuschauerinnen und Zuschauer!
Welches ist die unkontrollierbarste Kraft, die unser Leben zerfurcht? Die Bombe, die platzt, wenn wir unseren Alltag mühsam gerade so zurechtgelegt haben? Das Unwetter, das uns zwingt, alle Pläne über den Haufen zu werfen, und uns hilfesuchend irgendwo unterzustellen? Der Realitätseinbruch, der unsere Gedanken ganz vereinnahmen kann, und unsere Handlungen in Beschlag nehmen, bis hin zur genussvollen Selbstaufgabe?
Wahrscheinlich doch die Liebe.
Für alle, die noch nicht restlos davon überzeugt sind, dass man die Partnerwahl an ein Computerprogramm auslagern kann, um sich “jemanden zu suchen”, der gerade optimal in die eigene Lebensbiographie passt, muss Werther ein spannendes aber auch erschreckendes Anschauungsbeispiel abgeben. Die Figur aus dem Briefroman Goethes, deren sprunghafte Heißblütigkeit für eine ganze Literaturepoche bildgebend geworden ist, wollen wir durch die verschiedenen Stadien der Obsession mit zugewandtem Blick begleiten. Vielleicht taucht ja am Rande die Frage auf, ob es überhaupt angeht, so sehr zu lieben. Oder ob dann das Gegenüber, für das man sein Lebensglück oder gar sein Leben an den seidenen Faden hängt, dabei zum bloßen Gegenstand wird. Zum Abziehbild der eigenen Leidenschaft. Jedenfalls verspricht der Theaterabend blumige Worte und große Gefühle. Ungefiltert und direkt.
Die Inszenierung von XY setzt den hochtourigen Text in ein grelles und aufdringliches Bühnenbild und lässt die Figuren ausreden und zur Geltung kommen. Die Musik(-Landschaft) von YZ unterläuft die kitschige Ursprünglichkeit von Werthers Wahlheimat “Wahlheim”. Wir spielen 1 Stunde und 45 Minuten ohne Pause und verwenden Stroboskoplicht und (künstliches) Blut. Sorry.
Quellen:
Tischbirek: Ermessensdirigierende KI(ZfDR 2021, 307)
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