on antagonism (Wolfram Lotz: Politiker) Vollversion

Wenn die Politiker "die da oben" sind -- wer sind dann wir?
Abbildung eines Propagandaplakats aus der Ukraine aus Zeiten vor
Selenskyj (der von Oligarchen finanzierte Mann aus dem Volk)

 


Also ich kannte diesen Wolfram Lotz aus dem Literaturstudium als Neo-Realisten, oder so ähnlich. Dachte, er wäre in einem Atemzug zu nennen mit Schimmelpfennig und so. Ich weiß, dass er mal so eine Joseph Conrad-Überschreibung gemacht hat (lächerliche Finsternis), die ich ganz cool fand, und irgendwie witzig. Ist aber alles ganz schön lange her.


Seitdem hat sich einiges geändert, offenbar. In der Welt, wie auch in Lotzens Poetologie, so scheint es mir.


Wenn man nun, wie ich es zu tun pflege, gänzlich unvorbereitet in den Abend an den Kammerspielen startet, fährt es einem erst einmal durch Mark und Bein. Umtechnisch gesprochen war mein initialer Gedanke: Wird das wieder so eine bedeutungsschwangere Kunstkacke wie der Heldenplatz-Abend? Na dann gut' Nacht. Ich geh heim.


Aber dann kommt irgendwie alles anders.


Um das im Ansatz nachzuvollziehen, hilft möglicherweise ein Rückgriff auf das Werk Ionescos und Becketts. Die Kahle Sängerin. Die Nashörner. You name it. Auf einmal stehen da Figuren und plappern. 


Ja. Sie schwätzen wie unnütze Waschweiber. "C'est pas par la - c'est par ici". Die Rede wird zum Papperlapapp. Vor aller Augen. Und wir erinnern uns: seit De Oratore oder schon weit früher (gefährliches Halbwissen) ist die Rede das Medium des kollektiven Nutzens schlechthin. Sie ist das Vehikel zur Lenkung eines Staatswesens. Leute, die klüger sind als ich, würden vielleicht sagen, sie ist ein Wegbereiter der Repräsentation.


Ja. Und die plappernden Roboter Ionescos und Becketts (spannend wäre zu fragen, was ihr Redefluss mit den Untoten in Jelineks Werk gemein haben) stehen da, wie debile Individualisten. Die gar nichts wirklich zu sagen haben. Zumindest nichts was gehört werden soll. Weil nichts davon verallgemeinert werden kann. Scheinbar stehen diese Figuren für nichts. Und sollten (einer schillerscheu Konzeption zufolge) folglich von der Bühne vertrieben werden.


Ein Schuh wird draus, wenn man sich vor Augen führt, dass zB Ionesco mit seinem absurden Theater selbst wiederum einen voranschreitenden Faschismus vor Augen hat. Und ja: der Faschismus war nicht faul um große Reden, wissenschaftliche Theoreme, detaillierte Gesetze (kurz: einen Rekurs auf die Ratio) um seiner Barbarei ein schönes Mäntelchen zu verpassen. Jemand Klügeres könnte mir sicherlich darlegen: Im Akt der Prädikation steckt immer schon etwas faschistoides.  


Es ist also (ganz allgemein) ersteinmal ein interessantes Unterfangen, die Sprache aus der Pflicht zu entlassen, bedeuten zu müssen


Insofern fühlt sich der POLITIKER_Abend als Befreiung an. Als nach etwa zehn Minuten eine Handvoll Zuschauerinnen aufsteht, und den Saal verlassen will, geht das Saallicht an. Alle Darsteller* fallen aus ihren Rollen. Schauen in den Zuschauerraum und fragen (nicht provokativ, sondern wohlwollend): "Ist bis hierhin alles klar?" / "Gibt es noch fragen?". JA. ES GÄBE EINIGE. Aber bevor man sie gesammelt hat, rollt die Sprachlawine bereits aufs Neue heran und beschwört, wie die Woche der Frau das Leben der Adligen feiert, diese Kaste von halbgöttern, diese Lichtgestalten. Eben die POLITIKER

Und es macht eben auch etwas mit der Aufmerksamkeit. An diesem Abend sprechen die drei Schauspieler vorwiegend gleichzeitig. Sie wiederholen sich. Lösen sich ab... Es ist eine art Gedicht, was da vorgetragen wird... Ab dem Zeitpunkt, wo man es aufgibt, nach einer globalen Bedeutung des Textes zu suchen, schiebt sich die Wahrnehmung für das Bühnenbild (drei relativ zweidimensionale "Guckkasten", die wie Bilderrahmen an einer Wand, übereinandergestapelt sind), die Phonetik des Gesprochenen und das absurde Spiel mit einzelnen Requisiten in den Vordergrund. Die Bühnenmittel dürfen sie selber sein, anstatt, wie so häufig, sklavisch dem Text zu dienen.

Eine Frage wird allerdings immer drängender: Wer sind "Die Politiker" -- und warum diese Obsession?


Ich bin am Ende dieses Abends seltsam beschwingt. Und beinahe versucht den Lotz-Abend als eine Replik auf den schwer misslungenen Heldenplatz-Abend zu lesen. Denn Lotz scheint mit seinem deutungsoffenen Text eben jene halsstarrige "Die-da-oben"-Rhetorik treffen zu wollen, die den Text Falk Richters durchzieht. Ein wutbürgerisches Sich-zurücklehnen, das das Gemeinwesen schon längst vergessen hat vor lauter Verzückung über die eigene moralische Überlegenheit. 

Doch wer spricht da? Ist es Otto normal, der sich für Politik nicht sonderlich interessiert? Ein Chor der Leidtragenden? Die ikonisch gewordenen "Abgehängten"? Schwer zu sagen. Dafür ist der Text einfach zu offen und poetisch. Hat zu viel Ironie und zu wenig Referenz. 

Ich würde aber die These wagen, dass eben jener Versteifung auf die "Kaste" der Politiker (vonseiten der Figuren/ Sprechinstanzen) eine brandaktuelle Beobachtung von Lotz zugrundeliegt. Der Protest wird ja zweifelsohne immer "übergriffiger". Und das hat eben möglicherweise genau etwas mit Repräsentation zu tun. Das regierte Individuum scheint (vielleicht ein weiterer Ausfluss der Omnipräsenz sozialer Medien) die Distanz zu den Machthabern nicht mehr auszuhalten. Es scheint diese privatisieren, bzw. imitieren zu wollen. Ich finde fast, das hat etwas quasi-Sexuelles. Zumindest ist eine extreme Hinwendung zu verzeichnen, die bis zur Obsession geht. Diese Haltung destilliert sich in den Figuren, die gebetsmühlenartig, wie ein Mantra, Zuschreibenden über "Die Politiker" (sind auch Lokalpolitiker*innen gemeint? Verwaltungsangestellte?) vor sich hinsagen -- scheinbar nur, um so ihren fernen (Vor-)Bildern nahe sein zu können.






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