Empörungskultur Grundkurs -- Grundversorgung
Grundversorgung - Betrachtungen zu einem Begriff aus aktuellem Anlass
Es gibt diese lustige Anekdote, dass in Bayern Bier ein Grundnahrungsmittel sei. Landerverfassungsmäßig abgesichert. Was da dran ist, ist mir mehr oder weniger bums. Die Story ist gut. sie kickt.
Genauso die Nummer mit dem Bienenschwarmparagraphen aus dem BGB. Den kann man googeln. findet jede*r lustig. Warum? Weil die meisten Laien nicht ganz verstehen, wie unser Rechtssystem funktioniert. Sie wissen nur, dass "in diesem Land irgendwie alles geregelt" ist und empfinden das meistens eher als Bedrohung und Einschränkung. Dass es deshalb nicht möglich ist, ihnen eine Großkanzlei in ihrem Wohngebiet vor die Nase zu setzen, oder von der Polizei einfach so den Führerschein abgenommen zu bekommen, das sehen sie eher als moralische Selbstverständlichkeit an. Gesunder Menschenverstand. Hätte ich auch ohne die komplizierten Gesetze entschieden.
Aber so etwas wie der Bienenschwarmparagraph kommt deshalb zustande, weil das Gesetz mit Generalisierungen arbeitet. Mit Prinzipien (Gebot der Rücksichtnahme, pacta sunt servanda, null poena sine lege, etc.) und Regeln. Und wenn die konsequente Anwendung dieser Prinzipien und Regeln zu einer Einzelfallungerechtigkeit führt, würde man deshalb nicht etwa die ansonsten wirkungsvolle Regel verwerfen, sondern eben eine Ausnahme von der Regel normieren. So ist auch die letzte Lücke an Ungerechtigkeit gestopft. Dann kommen solche sehr konkreten Sachverhaltsbezeichnungen in das Gesetz, was komödiantisch wirkt, weil man eigentlich eher vage generalisierende technische Sprache erwarten würde.
Aber warum kickt der Joke mit dem Bier als Grundnahrungsmittel? Naja, gemeinhin assoziiert man Bierkonsum mit Freizeit, mit Spaß, mit Genuss. Ernähren kann man sich auch mit Kartoffeln, Gemüse und Wasser. Warum sollte vom Staat etwas geschützt werden, was einem die Leber zersetzt, was die Leute mitunter aggressiv und leistungsunfähig macht? Was im schlimmsten Fall in die Sucht führt, die Familien und Leben zerstört. Sollte der Staat mit seinem Regelwerk nicht auf einen Ausgleich der Interessen achten, anstatt die Freiheitswut einzelner (Raucher*innen, Bäcker*innen, Covidioten*, you name it) zu privilegieren? Sollte er sich nicht fragen, ob eine Regel, die er erlässt, mittelbar die Rechtsposition anderer, mehr schutzbedürftiger Gruppen mittelbar schwächt?
-- Was ist mit der Kellnerin, die im Raucherlokal arbeitet? mit den Anderen Nichtraucher*innen-Gästen?
-- Ja, aber die haben es sich ja ausgesucht, dass sie dort...
-- Ja klar, prekär arbeitende Gruppen haben "es sich ausgesucht"... Soll der rauchende Bierbauch doch vor die Tür...
Wir sind mitten in der core-debatte um die uralte Frage, wie wir zusammenleben wollen (die vielleicht ein wenig out geworden ist, weil Wut, Polemik und Identitätspolitik in der eigenen mini-Blase sich grade zur Zeit irgendwie cooler anfühlt. Die totale Abwesenheit eines auch nur nuancierten Dissens am Abendessenstische-- mhhhh... wie ein wohliger MDMA-Rausch im Sonnenaufgang)
In dem Verlauf der Debatte ist es (vielleicht Tendenz hier auch zunehmend) eine bekannte und immer wieder wirksame Strategie, DINGE EINFACH UMZULABELN. Aus der Lüge wird eine alternative Wahrheit, aus dem rassistischen Denken ein "Erfahrungswert", whatever, gibt tausend Beispiele. Somit schafft der Sprecher* es ganz gut sich den Fragen zu entziehen, die auf dem Weg der mühsamen diskursbasierten Umbewertung von einzelnen Rechtsgütern stellen. Siehe oben. Was ist mit der Kellner*in, was passiert, wenn niemand mehr der Wissenschaft glaubt? Wie verhindert man mit proaktiv gelebter Gleichbehandlung bei Polizeimaßnahmen eine sicherlich wachsende Spaltung im Land (ganz allgemein einfach die Frage, wie kann man selbst zur Befriedung und Prosperität im Gemeinwesen beitragen, indem man mal ganz kurz seinen eigenen Bierdeckel an Interessen vergisst?)
Dieses Umlabeln erscheint mir ein zutiefst diskursfeindliche Strategie. Die beinahe ein wenig zündelt mit dem Geltungsanspruch derjenigen Gruppe, deren Interessen auf der anderen Seite der Debatte steht. Sie soll gar nicht erst gesehen werden. Marginalisiert werden, unsichtbar gemacht. Von vornherein als indiskutabel gesetzt werden. Das schafft auf Dauer natürlich Unmut, weil unsere Gesellschaft aus ALLEN besteht, die hier rumlaufen, atmen, ggf arbeiten, ggf. Steuern zahlen. Arm, reich, dick, dünn, groß, klein, zT genießen sogar noch geboren zu werdende Individuen einen Geltungsanspruch. Sogenannte nasciturus.
Dieser sollte mE diskutabel bleiben, auch wenn diese Diskussion emotional sicher nicht einfach ist. Sie lohnt sich. Interessenausgleich lohnt sich immer. Man schaue nur auf das Negativbeispiel USA.
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