T. C. Boyle América / Betrachtungen über "Amerika"

1. Körper

Die Obdachlosen dort sprechen einen nicht an

Sie stellen sich nur aus

Beharren auf ihrem Recht, ein Skandalon zu sein.

Die Fettflecken und Schimmelstellen der American-Dream-Tüte zu verkörpern.

Ja, und in der Tat. Diese Körper ver-körpern.

Sie werden weniger Körper und mehr Zeichen.

Tragen in ihren Schwielen den Schmutz der Straße. Verweisen mit ihren Wunden, die nicht heilen, auf ein System, in dem der Körper (wie ALLES ALLES ALLES) kapitalisiert ist.

Ich meine nicht tatsächlich (denn tatsächlich würde das wahrscheinlich schon gehen, dass man in einer sozialen Einrichtung sich das desinfizieren und verbinden lässt)

Sondern symbolisch. Ich lese diese Körper symbolisch und behaupte gleichzeitig, dass sie genau das einfordern.

Damit sind sie übrigens das genaue Gegenteil der Botox-Welt. Jene funktioniert subkutan und besteht darauf, KEINE Zeichen zu beherrbergen. (Eine eliminierte Falte ist das Anti-Zeichen schlechthin, oder?). Das Dispositiv zu leugnen.

Ich habe mir eingebildet an den Klamotten (modisch! Marken! Noch weitgehend unverschlissen) mitunter sogar ablesen zu können, dass diese und jene Person noch vor zwei Jahren ein Leben mitten in der Gesellschaft geführt haben muss (oder ist diese Formulierung unpräzise? Denn wo wäre man mehr in der MITTE der Gesellschaft als auf der Market-Street in San Francisco? Wo weniger in der Peripherie bzw. der Parzelle? Genauer wäre wohl, zu sagen: im reißenden Strom der Vermögensverfügungen). Diese Spuren werden mit neutralem Gestus mitgeführt und insistieren somit noch zusätzlich auf der Brutalität des Geworden-Seins.

Diese Fettflecken-Darsteller bestehen also mE in gewisser Hinsicht darauf, auf ein wackliges Gestell verweisen zu dürfen, dessen Wendigkeit und Schlankheit den Kern des amerikanischen Selbstbildes/Nationalbewusstseins bilden dürfte.

2. Politik

(denn so ist es ja auf tatsächlicher Ebene: unsichere Arbeitsverträge, ein Staat, der in der Krise im Vergleich zum Deutschen nicht Beihilfe leistet, ungnädige Gesetze zur Räumung von Wohnraum-Mieteinheiten, et Voilà. Es ist dies ein Gestell, in dem ein Ereignis wie das massenhafte Homeoffice blitzschnell und urpräzise zu einer Kettenreaktion führt. Verwaiste Innenstädte. Zahlreiche Arbeitslose. Fragmentierte Biographien. Drogen und ggf. "Kriminalität" -- hierzu mehr unter 3.)

Aber darüber weiß ich eindeutig zu wenig.

Weil eine wöchentliche SZ-Lektüre für tiefergehende Kenntnisse hierüber nicht ausreicht.

Und auch weil nicht darüber gesprochen wird.

Politik ist, wie Sex und Religion, ein Tabuthema.

(Geld übrigens weniger als in Deutschland)

Politik ist wie das Dessous, das man sich kauft. Schlafzimmerangelegenheit. Geht niemanden etwas an, ob ich Typ Reizwäsche oder Liebestöter bin. Privatsache. Eine Polis drive by in gewisser Hinsicht.

Nur zweimal öffnen sich mir gegenüber Fremde: Einmal ein Kumpel eines Verwandten, der in mir "den Deutschen" erkennt, starke Sympathien zu Alice Weidel hegt, und bestätigt wissen will: "Angela Merkel, huh? She really ruined that country, isn't it?". Und einmal komplett überraschend am Salatbuffet. Der Fragesteller entpuppt sich als Progressiver. Bezeichnet sich als Weder-Noch-democrat/republican. Nennt mir die Namen einzelner Abgeordneter, damit ich ihn überhaupt verorten kann. Ein Detail, dass mich beeindruckt. Fast so, als wäre die Lagerbildung rechts/links ein allseitig beschämender Vorgang. Selbst wieder so ein Kunsumgut, für dessen Fußabdruck man sich schämt. Und ein Sprechen-Wollen, eine Neugierde entwächst erst aus dem tertium non datur.


3. Diskurs

Die verschleißenden Körper sind jedoch, wie alle Zeichen, arbiträr.

Es bedarf somit einer Konvention, die bestimmt, wie sie zu lesen sind.

Eine Lesart: Sie sind Ausdruck einer höheren Gesundheit. Nämlich der des Systems.

Ausfluss eines Heilungsprozesses.

Also quasi menschlicher Eiter.

Etwas das man abstößt, aber irgendwie auch braucht.

Und daher kommt auch das insistieren auf dem vermeintlichen Anstieg der Kriminalität im selben Atemzug mit dem Bedauern für "diese Leute".

Denn die Delinquenz ist das klassische "Andere" der herrschenden Ordnung.

Der Straftäter-Eiter-Mensch muss den Kleinbürger erleichtern.

Denn er erlaubt es, eine Klare Trennlinie zu ziehen, sich abzusondern. Von dem Schuldbewusstsein des Privilegierten.

Somit wird er heilig gesprochen.

Bei T.C. Boyle gibt es diese Szene, eine Cocktailparty, ein entspannter Herrenabend mit Smalltalk, der übergeht in eine Willensbildungsprozess, die Mauer um die Wohnsiedlung zu errichten. Und der Übergang ist genau die Schreckensgeschichte um eine mittelalte Frau aus der Gemeinde, die von Unbekannten in irgendeiner Weise geschändet wurde. Genauer führt der Erzähler das nicht aus. Jedoch führt er aus, dass der Partygast, der diese Geschichte für seine politische Agenda benutzt (und was wäre prototypisch "politischer" als eben dieser abgegrenzte, selbstverwaltete Bereich eines Gemeinwesens hier in Form der Siedlung Arroyo Bianco?) jedes noch so schmutzige Detail ihres Schicksals wiedergibt.

Hier möchte ich einhaken. Denn aus der Sicht Delaneys macht sie diese Erzählung zu einer Art Heiligen. Einer Sagengestalt. Ich musste an die Hally-Episode in Kleists Herrmannsschlacht denken und an zeitgenössische Debatten um Flüchtlingsunterkünfte, in der sich so lange nichts bewegt, bis ein paar Anwohnerinnen sagen, dass sie sich unsicher fühlen. Das bringt dann das Faß zum überlaufen. Das Boot zum Sinken.  

Meine These ist, dass dieser Diskurs -- vorgeführt bei T.C. Boyle, bei Kleist sowie gestern in der SWR Abend-Rundschau -- lediglich das Konzept des unbefleckten Frauenkörpers heilig spricht. Dass jedoch das einzelne Exemplar aggressiv profaniert wird. Es wird gleichsam zum Gemeingebrauch freigegeben. Jedermann* darf verbal auf es zugreifen, womit jegliche Absonderung (die ja bekanntlich Voraussetzung bzw. Wesen der Sakralisierung ist) wegfällt. 

Es bedarf somit erst einer Sintflut, um die verbannten (Delinquenten-)Körper in einer Schlammlawine wieder mit denen der Archivbesitzer zu konfrontieren. 

Um den blitzlichtgeblendeten ein menschlich/kreatürliches Antlitz zu verleihen, in das man erkennend blicken kann.

Nur eine Frage bleibt 

Welche Katastrophe befreit die Frauenkörper? 


Literatur:

https://www.deutschlandfunk.de/japan-projektionen-1-3-der-reisende-im-reich-der-zeichen-100.html

https://www.nbcnews.com/news/us-news/after-san-francisco-shoplifting-video-goes-viral-officials-argue-thefts-n1273848



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