On Vernon Subutex oder: Ein Plädoyer für vulnerable Körper




On Vernon Subutex 

oder: Ein Plädoyer für vulnerable Körper


Wie machen sie es eigentlich alle mit vögeln, während der Pandemie? 

Ich finde diese Frage steht im Raum, während man über Lüftungssysteme in Schulen und Angehörige an Sterbebetten und körpernahe Dienstleistungen (was das auch immer sein mag) schon erschöpfend diskutiert hat.
(Witzig, nur bei der Impfpflicht hüllen sich alle in beredtes Schweigen. Dieser Umstand passt aber super in diesen Artikel, wovon der handelt kann man ja in der Überschrift lesen. Bin ja hier nicht Euer Papagei…)

Die Frage bohrt. Wie bumsen Singles unter der Regentschaft von Karl Lauterbach dem Großen?

Wenn ich jetzt ein weißer alter Mann wäre, würde ich freilich schlüpfrige Anekdoten erzählen, die alle im Raum etwas beschämt zurücklassen (ist das Internet überhaupt ein Raum? Judith Butler sagt YES ). Aber ich bin nicht alt (oder ist man mit dreißig schon alt? Mit Pimmel schon Mann? Gute Frage). Und außerdem erzähle ich nicht gerne Anekdoten, in denen ich vorkomme (bin wohl doch kein Mann. Bin wohl ein Brecht-Jünger. Ein Epigone in einer Zeit des omnipräsenten Narzisstischen Offenbarungsmonologs). 

Nur erstens habe ich rein gar nix zu erzählen und zweitens braucht diese abfuckte Zeit wirklich keine Anekdoten. Keine Kasuistik. Keine Kategorien. Keine Nabelschau oder ein Stäbchen in der Nase.

Diese Zeit braucht eine Utopie. Oder gleich mehrere. Virgine D. hat so eine solche am Start. Oder mehrere.

Mit einer Koeppenschen Simultantechnik spinnt sie Handlungsstränge ineinander. Bohèmes in Paris, allesamt. Irgendwann kennt man ein Panorama an Individualisten (m/w/d) und versteht, wie schwer es zwangsläufig ist, als ein solcher in der Stadt zu überleben (finanziell, psychisch, physisch, weltanschaulich). Brennpunkt dieses abgefuckt-glamourösen Erzählkosmos ist der verstorbene Pop-Sänger Alex Bleach, der dem Erzähler einen esoterischen Schwurbel-Nachlass per Videotape hinterlassen hat, um den schon die Geier kreisen. Alle Sekundär-Parasiten, die die Körper der Kreativen mit ihrem Durst nach Rampenbelichtung erst der Zersetzung aussetzten. 

Aber Frau Despentes (ein Pseudonym, der auf eine Kindheit im Ghetto alludiert) packt diese ganzen Sonderlinge (oder sind sie fucking allgemein?), nicht mit Samthandschuhen an. Eine Art zeitgenössische Caspar Neher, die das Licht der Lightbulbs urbaner Coffeshops scheut. Und sich in die Eck-Borzen verzieht zum Schreiben:



Der Rechte kommt schlecht weg, ob seiner Verbitterung, die sich neben seiner Xenophobie vor allem in seiner verkrampften Monogamie entzündet

Die loyale Lesbe, die dem Protagonisten aus der Patsche hilft, ist eigentlich nur auf Kohle aus, wirkt aber in ihrer Lebensführung aufrechter als so manche*r aus der gehobenen Mittelschicht.

Der Postmigrantische (was meine ich denn bitte mit diesem Wort?) Uniprof ist nicht etwa stolz auf seine kulturelle Errungenschaft, sonden entwickelt eine Paranoia gegenüber seiner Tochter, die er allein aufgezogen hat und die (trotzdem – oder gerade deshalb?) streng gläubige Muslima wird.

Dabei, so lese ich das zumindest, fehlt jede, wirklich jede Überhebung seitens des Erzählers (m). Es ist dies ein zynischer Humanismus, der in der Traditionslinie Balzack – Céline – Houellebeqc (Übrigens die erste Feministin in dieser Männerriege. Ist doch auch schon mal was, oder?) steht, meiner Meinung nach. Und der (kleiner Serviervorschlag) so verdammt gut tut in einer Zeit, in der die Awareness allen schon die Kehle zugeschnürt hat, die noch nicht auf dem Schafott gelandet sind.

Der Text bricht erst als Aicha, die Tochter des og. Profs eine kuriose Reise nach Madrid unternimmt. im Gepäck ihre Begleiterin, die einiges zu erzählen weiß von der doppelbödigen Emanzipation, die Frauen in der Pornoindustrie der 90er versuchten, von einem omnipräsenten Mail Gaze, von den Jugendsünden von Aichas vorverstorbener Mutter, und dabei mindestens genausoviel zu lernen scheint von der jungen Radikalen mit den strikten Gebetszeiten. Hier sehen sich zwei Protagonistinnen eines Post- bzw. Anti-Materialismus jeweils mit neuen Augen. Ein feinfühliger Vorgang, mithin ein Plädoyer das Andere zu umarmen, anstatt es abzugrenzen. Ein bisschen De-Maquillage in einer Welt mit zu viel Make-Up.

Aber dieser Crack (durch den, wie Jonny Cash sagt, das Licht eindringen kann), steht meiner Meinung nach für ein Grundverständnis, gegen cleane Oberflächen. Gegen fertige Lebensentwürfe. Gegen wohlfeile Argumente (nicht schwer wäre es nachzuweisen, dass auch Céline gegen eine falsche Hygiene angeschrieben hat, von Houellebecq ganz zu schweigen, Balsack habe ich nie gelesen…) 


Der Protagonist, der sich nach dem Rauswurf aus seiner Wohnung durch die Betten von Paris schnorrt und/oder vögelt, verkörpert ein Dandytum (Rocker?) des vulnerablen Körpers. Er ist, wie eine Freundin erkennt, gut gealtet. Und dennoch promiskuitiv, welch Skandalon!


Er sieht den Zerfall um ihn herum, in ihm ebenso, scheint ihn aber zu umarmen, tapfer auf der Suche nach der Libido in Zeiten der Cholera.

Für alle Hobbiefeuilletonisten, die meinen, man solle die häusliche Quarantäne nutzen um DIE PEST zu lesen, hier eine ernsthafte Alternative. Zieht es euch rein. Geht runter wie Koks. Bitter im Nachgeschmack aber ungeheuer belebend.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit 

Ich bin draußen wie Corona-Spaziergänge


Euer Magnus Reinhuber

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